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Ungleiche Brüder im Geiste

Vergleichende Studien Wolfgang Schieder über Faschismus und Nationalsozialismus

16.02.2009
2023-08-30T11:23:46.7200Z
3 Min

Benito Mussolini steht für den Ursprungsfaschismus, Adolf Hitler für dessen Nachahmung und nachfolgende Radikalisierung." Das ist die Kernthese von Wolfgang Schieder, einem der bedeutendsten deutschen Faschismusforscher, die sich wie ein roter Faden durch die 20 Aufsätze seines Buchs zieht. Im ersten Teil des Bandes stellt der Autor den italienischen "Ursprungsfaschismus" vor, um zu belegen, dass dieser ein neuartiges Phänomen ohne Vorbild war. Im zweiten Teil will Schieder zeigen, dass der Faschismus eine Vorbildfunktion für den Nationalsozialismus hatte, während der dritte Teil verdeutlichen soll, dass es sich beim Nationalsozialismus tatsächlich um einen "deutschen Faschismus" handelte. Schließlich präsentiert Schieder im vierten Teil vergleichende Betrachtungen zu Nationalsozialismus und Faschismus.

Trotz aller vorgebrachten Argumente bleiben nach der Lektüre große Zweifel, ob der Nationalsozialismus wirklich guten Gewissens als bloße "Nachahmung" des italienischen Faschismus angesehen werden kann. Schieder selbst bemerkt - nebenbei - im Einklang mit allen Erforschern der völkischen Bewegung in Deutschland, dass der Nationalsozialismus "unbestreitbar ganz unabhängig" vom Faschismus aufgekommen ist. Das soll nicht den Verdienst Schieders schmälern. Er weist etwa plastisch nach, dass die Beschwörungen einer faschistischen Alternative in der Weimarer Republik "zumindest indirekt zur Ermöglichung Hitlers" beigetragen habe. Der Faschismus habe als "neuartiges charismatisches Diktatursystem Mussolinis" viele politische Fürsprecher gefunden, nicht zuletzt der politische Katholizismus habe mit Mussolini wegen dessen versöhnlicher Kirchenpolitik sympathisiert. Deutschnationale hätten sich mit dem Faschismus zunächst wegen der Südtirolfrage schwer getan, die Begeisterung über die revolutionär nationalistische Ausrichtung habe aber schließlich überwogen.

»Volksgemeinschaft«

Hitler hat, wie Schieder zu Recht stark betont, in manchen Punkten direkt von Mussolini gelernt. Wie der "Duce" erzwang er die Regierungsmacht, indem er mit einem gewaltsamen Umsturz zur Abwendung der "roten Gefahr" drohte, sich aber bereit erklärte, mit nationalkonservativen Bündnispartnern zu regieren. Die Gemeinsamkeiten endeten aber kurz nach der Machterringung. Hitler gelang es im Unterschied zu Mussolini schnell, seine nationalkonservativen Bündnispartner zu entmachten und eine unbeschränkte nationalsozialistische Diktatur zu entfalten. Schieder kommt zu dem Urteil: "Das ursprüngliche faschistische Regime Hitlers nahm damit einen totalitären Charakter an, wie ihn Mussolini im Faschismus nie erreicht hat." Demnach gelang Hitler also nur, was Mussolini misslang. Damit wird Schieder den Gründen für die unterschiedliche Herrschaftsausgestaltung der beiden Diktaturen nicht gerecht. Denn die nationalsozialistische Bewegung strebte aufgrund der revolutionären "Volksgemeinschafts"-Ideologie eine weit radikalere Umgestaltung an als die Faschisten in Italien.

Die Besonderheiten des Faschismus sieht Schieder in seinem Charakter als Bewegung oder gar "Antipartei" und im paramilitärischen Aktionsstil. Da ihm die Ideologie unwichtig erscheint, geraten auch die ideologischen Unterschiede zwischen Nationalsozialismus und Faschismus nicht in seinen Blick. Die NSDAP und die faschistische Partei Italiens bezeichnet er lapidar als "ideologische ‚Omnibusparteien'", die bei Bedarf "dies oder jenes programmatisch verkündeten". Die Verbindungslinien zwischen der "Volksgemeinschafts"-Ideologie und der Politik des "Dritten Reichs" lassen sich aber nicht übersehen. Gerade die dunkelste Seite dieser Ideologie, der Antisemitismus, prägte die Politik von den Nürnberger Rassengesetzen bis hin zum Holocaust.

»Judenknecht«

Wer die Ideologie der beiden Parteien ernst nimmt, kann nicht leugnen, dass sich Nationalsozialisten und Faschisten in grundlegenden Punkten uneinig waren. Die Nationalsozialisten vermissten in der faschistischen Ideologie den Antisemitismus und radikalen gesellschaftlichen Veränderungswillen. Für fanatische Antisemiten wie Julius Streicher war Mussolini ein "Judenknecht". Während bei faschistischen Bewegungen der Staat im Mittelpunkt steht, ist es bei der NS-Bewegung das Volk. Die Faschisten wollten einen "organischen Staat" und plädierten für den Korporatismus, für die Nationalsozialisten ging es darum, eine vermeintlich ethnisch homogene "Volksgemeinschaft" zu schmieden.

Beide Bewegungen sind eng verwandt, der Faschismusbegriff sollte aber nicht als Oberbegriff genutzt werden, der nationalsozialistische Parteien umschließt. Der Begriff "Nationalsozialismus" sollte wiederum nicht ausschließlich zur Kennzeichnung der Ideologie der NSDAP benutzt werden. Es gab schließlich in der Zwischenkriegszeit bis hin nach Kanada und Chile weit mehr als ein Dutzend Parteien, die sich nationalsozialistisch nannten. Die italienische Selbstbezeichnung "faschistisch" wurde dagegen nur von der "Partito Fascista Sammarinese" und der "British Union of Fascists" übernommen. Der Oberbegriff "Rechtsextremismus" taugt hingegen durchaus, um faschistische und nationalsozialistische Parteien auf einen Nenner zu bringen. Er hat den Vorteil, dass sich in die vergleichende Perspektive auch die Regime Spaniens unter Franco und die "Estado Novos" in Portugal und Brasilien einbeziehen lassen - und macht deutlich, dass diese Regime dem italienischen Faschismus stärker ähneln als der Nationalsozialismus.

Wolfgang Schieder:

Faschistische Diktaturen. Studien zu Italien und Deutschland.

Wallstein Verlag,

Göttingen 2008;

591 S., 39 €