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Vom Berater zum Gestalter

RÜCKBLICK Ob Stammzellforschung oder Arbeitszeiten - das Europäische Parlament macht heute Politik. Das war nicht immer so

16.03.2009
2023-08-30T11:23:50.7200Z
5 Min

Es ging hoch her im Straßburger EU-Parlament an jenem 17. Dezember 2008. "Der Mensch ist keine Maschine!" rief die CSU-Abgeordnete Gabriele Stauner, und ihre SPD-Kollegin Constanze Krehl jubelte: "Ein soziales Europa ist möglich." Gerade hatte die Volksvertretung über die geplante neue EU-Arbeitszeitrichtlinie abgestimmt. Das Ergebnis: Einen Einstieg in die 60-Stunden-Woche soll es in Europa nicht geben.

Damit war ein Kampf mit harten Bandagen eingeläutet. Denn sowohl der EU-Ministerrat als auch die EU-Kommission hatten sich für diese 60-Stunden-Höchstgrenze ausgesprochen. Nun ist die Kommission aber kein Gesetzgeber, sondern sie schreibt lediglich die Entwürfe - und dem Parlament gefiel der Vorschlag nicht: Es wollte bei der 48-Stunden-Woche bleiben. Die Diskussionen müssen nun noch einmal neu aufgerollt werden.

Die Abstimmung am 17. Dezember zeigte es einmal mehr: Wenn das EU-Parlament sich halbwegs einig ist, führt an ihm häufig kein Weg vorbei. Das Parlament hat in über 40 Politikfeldern ein Mitentscheidungsrecht. Es winkt Gesetze nicht einfach durch, sondern darf Entwürfe auch umschreiben oder ablehnen.

Vermittlerrolle

Von dieser Machtfülle konnten die Abgeordneten vergangener Jahrzehnte nur träumen. Ein Rückblick in das Jahr 1958: Am 19. März vor 51 Jahren wird das Europaparlament gegründet. Es trägt den Namen "Europäische Parlamentarische Versammlung" und umfasst 142 Abgeordnete, die in "nur" vier offiziellen Sprachen debattieren. Ein Parlament im engen Sinn ist es nicht. Es ist nicht direkt vom Volk gewählt, sondern besteht aus Mitgliedern der Parlamente der sechs EU-Gründungsländer, aus Deutschen, Italienern, Luxemburgern, Belgiern, Franzosen und Niederländern.

Gesetze verabschiedet das Haus ebenfalls nicht. Die Kammer berät die Funktionäre der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG), die 1957 aus der Taufe gehoben wurde. Sie soll zwischen den europäischen Bürgern und dem fernen Straßburg und Brüssel vermitteln: "Das Parlament will den Völkern Europas die europäische Idee nahe bringen", erklärt der erste Parlamentspräsident Robert Schuman in seiner Antrittsrede.

Aber dieses "Europa" ist weit weg, und wer Karriere machen will, bleibt lieber in der Hauptstadt seines Heimatlandes. "Parlament der Großväter" wird das Europaparlament in seiner Anfangszeit daher spöttisch genannt, weil der eine oder andere Politiker dort dem Ende seiner Karriere entgegendämmerte. "Niemand hat damals verstanden, wieso ich ins Europäische Parlament wollte", erzählte frühere EU-Parlamentspräsident Egon Klepsch (CDU) 2008 in der "Süddeutschen Zeitung".

Doch das EP hat Selbstbewusstsein, und das zahlte sich schließlich aus. 1971 erhalten die Abgeordneten erstmals legislative Kompetenzen, wenn auch nur in einem einzigen Politikfeld: Sie können zusammen mit den Regierungen entscheiden, wofür das europäische Budget ausgegeben wird. Die Mitgestaltung des Haushalts gehört bis heute zu den wichtigsten Aufgaben des EU-Parlaments. 2009 beträgt dieser immerhin rund 116 Milliarden Euro.

1979 wird das Europaparlament zum ersten Mal direkt gewählt - eine Sternstunde der europäischen Demokratie, an die die Volksvertreter heute noch mit leichter Wehmut zurückdenken. Die Wahlbeteiligung in diesem denkwürdigen Sommer beträgt in Deutschland 66 Prozent - ein bis heute einzigartiges Ergebnis. An die Spitze der Volksvertretung rückt erstmals eine Frau: die energische Französin Simone Veil.

Von da an geht es Schlag auf Schlag. Die Europäische Gemeinschaft (EG) wächst, immer mehr Abgeordnete ziehen ins Hohe Haus ein. Mit jedem Reformvertrag, den die Gemeinschaft sich gibt, ringen die Parlamentarier den Regierungen und der Kommission ein Stückchen Macht ab. Leicht ist das nicht, aber in der Volkskammer sitzen inzwischen Vollblut-Politiker, die mit Feuereifer um Mitsprache kämpfen. "Das Parlament ist kein zahnloser Tiger", sagte der Grüne Daniel Cohn-Bendit, seit 1994 Mitglied der Volksvertretung.

Erfolge und Hindernisse

Papst Johannes Paul II., der Dalai Lama, Nelson Mandela, Queen Elizabeth - mit den Jahren haben viele Persönlichkeiten das Parlament besucht. Glatt sind diese Besuche nicht immer verlaufen: So wurde der Papst 1988 vom irischen Abgeordneten Ian Paisley mitten in seiner Rede lautstark als "Antichrist" beschimpft. Zuletzt sorgte die provokante Rede des tschechischen Staatspräsidenten und bekennenden Europaskeptikers Vacláv Klaus im Februar 2009 für Aufregung.

Heute hat das Europaparlament in etwa 75 Prozent der Gesetzgebung volle Mitentscheidungsrechte. Die schöpfen die Abgeordneten auch voll aus: Auf ihre Rechnung gehen etwa ein Verbot gefährlicher Pflanzenschutzmittel, die vorsichtige Öffnung der Dienstleistungsmärkte und das Scheitern der Software-Patente. Die Parlamentarier erlaubten Fördergelder für die embryonale Stammzellforschung und verlängerten die maximale Dauer der Abschiebehaft.

In anderen Bereichen bleibt das Europaparlament aber außen vor. Weite Teile der europäischen Außen- und Sicherheitspolitik, der Agrarpolitik, der Handelspolitik und der Zusammenarbeit in Strafsachen werden bis heute nicht in Straßburg entschieden. Wie soll das Mandat des nächsten EU-Militäreinsatzes aussehen? Wer bekommt künftig wieviele Agrarsubventionen? Das alles sind Fragen, die bisher noch auf Ebene der nationalen Regierungen entschieden werden.

Mangelnde Kommunikation

"Selbst dort, wo das Parlament Mitbestimmungsrecht hat, wird es ihm nicht leicht gemacht", sagt die Assistentin eines deutschen Abgeordneten. "Von vielen Plänen erfahren wir erst aus der Presse." Der Informationsfluss zwischen der EU-Kommission und dem Parlament beruht nicht selten auf Zufall, Glück und informellen Kontakten. Und auch die Regierungen im Ministerrat schirmen sich gern gegen die Volksvertretung ab. Das hat mit Machtansprüchen zu tun, aber auch mit der Tatsache, dass das Parlament das transparenteste der drei wichtigen EU-Organe ist. Vertrauliches würde unter Umständen nicht lange vertraulich bleiben, befürchten einige.

Gibt es in der EU ein Demokratiedefizit? Sicherlich, das geben selbst europäische Regierungsvertreter zu. Zumindest indirekt - das wird deutlich, wenn sie über den geplanten Reformvertrag von Lissabon sprechen. "Der Vertrag von Lissabon macht die EU demokratischer", ist ein Satz, den schon fast jedes Regierungsoberhaupt in den Mund genommen hat. Auch die EU-Kommissare in Brüssel verwenden ihn gerne.

Der Lissabon-Vertrag war in einer pompösen Zeremonie im Dezember 2007 von den 27 EU-Regierungschefs unterzeichnet worden. Er muss nun in allen EU-Staaten ratifiziert werden. 23 Länder haben das schon auf parlamentarischem Weg getan. Falls noch Irland, Tschechien, Deutschland und Polen abschließend grünes Licht geben, könnte der Vertrag Ende 2009 in Kraft

treten. "Das Europaparlament ist der eigentliche Gewinner des Reformvertrags", betont der Präsident des EU-Parlaments, Hans-Gert Pöttering (CDU), häufig. Denn der Lissabon-Vertrag weitet die Rechte der Volksvertretung noch einmal kräftig aus. Sie wird dann fast überall mitentscheiden können, etwa bei der inneren Sicherheit, der Handelspolitik, der legalen Einwanderung, der Agrarpolitik. Und sie könnte - auf Vorschlag der EU-Regierungen - künftig auch den Kommissionspräsidenten wählen.

Einige Schwachpunkte aber bleiben bestehen. Anders als zum Beispiel der Bundestag wird das EP auch künftig kein Initiativrecht haben. Die Gesetzesvorlagen kommen weiterhin von der EU-Kommission. Kritiker sind zudem der Ansicht, dass der Machtzuwachs des Europäischen Parlaments mit dem der Kommission nicht Schritt halte und der Bundestag nicht angemessen an der EU-Gesetzgebung mitwirken könne. Mit Argumenten dieser Art, vorgetragen zum Beispiel von der Linksfraktion oder vom CSU-Abgeordneten Peter Gauweiler, befasst sich derzeit das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe.

Sicher ist auch: Für solche Hinkefüße sind nicht ominöse "Brüsseler Beamte" im fernen Belgien verantwortlich. EU-Reformverträge werden immer noch maßgeblich von den Regierungen der EU-Länder ausgehandelt. Wie demokratisch die EU ist, wie viel Macht das EU-Parlament bekommt, liegt in ihrer Hand.

Isabel Guzmán ist Journalistin in Brüssel.