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Mittler zwischen den Worten

DOLMETSCHER Die EU hat den größten Übersetzungsapparat der Welt. Reine Geldverschwendung?

16.03.2009
2023-08-30T11:23:50.7200Z
4 Min

Die Kabinen der Dolmetscher umgeben die Abgeordneten wie ein schützender Kreis. Während die Mitglieder im Ausschuss für Umweltfragen, Volksgesundheit und Lebensmittelsicherheit Platz nehmen, positioniert sich Michel Lesseigne hinter seinem einzigen Hilfsmittel - dem Mikrofon. Seit fast 30 Jahren arbeitet der Belgier als Dolmetscher für die EU. Während der tschechische Vorsitzende auf Englisch "Guut Morrrnink" ins Mikrofon schnarrt, geht ein Raunen durch die schalldichte Kabine der französischsprachigen Übersetzer: "Ah, celui-là, il a un accent grave...!" (Oh nein, er hat einen starken Akzent...!) Viele der Europa-Abgeordneten sprechen lieber Englisch. Lesseigne hält das für überheblich. "Sie alle haben die Möglichkeit, ihre Muttersprache zu sprechen. Warum tun sie das nicht? Sie könnten sich um Längen besser ausdrücken!" Er holt tief Luft, schlägt die Beine übereinander und rettet die Worte des Tschechen ins Französische. "Ich übersetze das Gesagte nicht Wort für Wort, das wäre für den ein oder anderen Abgeordneten manchmal peinlich", sagt er.

Englisch statt Deutsch

Helga Trüpel, deutsche Europa-Abgeordnete der Grünen und stellvertretende Vorsitzende im Ausschuss für Kultur und Bildung, spricht wie ihr tschechischer Kollege lieber Englisch: "Das erleichtert die direkte Kommunikation. Die Übersetzung behindert uns manchmal: Während die griechischen Abgeordneten bereits über einen Witz ihres Kollegen lachen, warte ich noch auf die deutsche Version seiner Worte."

In der EU herrscht das Prinzip der Mehrsprachigkeit. Es gibt 23 Amtssprachen, die alle gleichberechtigt sind. Ausgangspunkt für diese Sprachenvielfalt war die Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) im Januar 1957. Deutsch, Französisch, Niederländisch und Italienisch waren die ersten Amtssprachen im politischen und bürokratischen Konstrukt Europa. Mit jeder Erweiterungsrunde kamen neue Sprachen hinzu. Dazu zählen mittlerweile auch selten gesprochene Sprachen wie Gälisch und Maltesisch. In diesen Fällen stieß der Übersetzungsapparat fast an seine Grenzen: Gälisch ist neben dem Englischen zwar die erste Amtssprache in Irland, aber nur etwa drei Prozent der Bevölkerung beherrschen sie noch. Es war keine leichte Aufgabe, hierfür Dolmetscher zu finden. Sogar bei den 13 irischen Abgeordneten sind gälische Sprachkenntnisse rar gesät: Nur vier von ihnen sprechen die seltene Sprache von Zeit zu Zeit im EU-Parlament.

Strenge Logistik

Damit in der Übersetzungsmaschinerie des EU-Parlaments keine Pannen passieren, ist eine generalstabsmäßige Planung wichtig: An einem Vormittag können bis zu 600 Dolmetscher im Einsatz sein. Wöchentlich sind es bis zu 1.000 Dolmetscher, die in Straßburg oder Brüssel Dienst haben. Wenn eine direkte Simultanübersetzung nicht möglich ist, arbeiten sie nach dem Relais-System: Die ungarischen oder finnischen Dolmetscher übersetzen ihre eigene Sprache ins Englische oder Französische. Die deutschen Dolmetscher greifen für ihre Übersetzung auf diese Brückensprachen zurück.

Sprachen sind in der EU vorwiegend eine politische Angelegenheit und keine kulturelle. "Die EU-Abgeordneten vertreten in erster Linie die Interessen der Bürger, dazu müssen sie keine Sprachgenies sein", sagt Helga Trüpel. "Die EU ist eine Union der Bürger - eine Gemeinschaft in der es keine Zwangsmitgliedschaft gibt und darum auch keine lingua franca." Dass es bei dieser Vielstimmigkeit auch zu Missverständnissen komme, sei ganz normal: Insbesondere in Haushaltssitzungen, in denen die Politiker mit Millionen- und Milliardenbeträgen jonglieren, "sind die Dolmetscher ganz schön hinterher", erläutert die Abgeordnete.

Dolmetscher Michel Lesseigne, der aus dem Deutschen, Niederländischen, Englischen und Spanischen in seine Muttersprache Französisch übersetzt, hält für solche Fälle stets Stift und Zettel bereit und notiert die Zahlen. Denn ob eine Abgeordnete gerade "einhundertneunzig" oder "einundneunzig" gesagt hat, kann entscheidend sein. Nur eine verschluckte Silbe kann einen gewaltigen Unterschied machen. Die Sprachenpolitik kostet die EU jährlich knapp ein Prozent ihres Gesamtetats. Der lag im Jahr 2008 bei 120 Milliarden Euro. Trotz des relativ geringen Anteils der Dolmetscherkosten am Haushalt kritisierte der ehemalige finnische Abgeordnete Alexander Stubb im Jahr 2003 eine unnötige Mittelverschwendung.

Ist das Prinzip der Mehrsprachigkeit also ein unnötiger Kostenfaktor? Helga Trüpel sieht das anders: "Die Sprachenvielfalt, das ist doch die raison d'être, die Existenzberechtigung für die EU! Die Arbeit der Dolmetscher transportiert diesen europäischen Geist."

Keine Routine

Die Stimmen von Michel Lesseigne und seinen Kollegen werden daher wohl auch in Zukunft aus den Kopfhörern der EU-Parlamentarier klingen. Denn die Dolmetscher arbeiten nicht nur mit den Worten der Politiker, sie vermitteln auch zwischen den Gepflogenheiten der Sprachen und Redner. "Routine gibt es nicht in diesem Beruf", sagt Lesseigne, "im besten Falle ahne ich vielleicht, was der Redner als nächstes sagen wird." Von Bestimmungen zur Einfuhr von Hausvögeln in die EU auf Spanisch bis hin zu kompliziertesten Fragen des Urheberrechts im Internet auf Englisch - ein Dolmetscher im EU-Parlament findet immer die richtigen Worte.

Julia Rosch arbeitet bei der Bundeszentrale für politische Bildung.