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Parlamentarisches Profil : Guter Geist: Jakob Maria Mierscheid

06.04.2009
2023-08-30T11:23:52.7200Z
3 Min

Er ist der wohl einzige der mit ihm derzeit 613 Bundestagsabgeordneten, der in der altdeutschen Sütterlin-Schrift unterschreibt, aber auf der Höhe der Zeit bewegt sich Jakob Maria Mierscheid gleichwohl. Das zeigt nicht nur der elektronische Kurzmitteilungsdienst twitter, bei dem Mierscheid-Kommentare noch mehr Abonnenten finden als etwa die von SPD-Generalsekretär Hubertus Heil.

Ohnedies darf Mierscheid, seit Ende 1979 Mitglied der SPD-Fraktion, als Meister der politischen Kommunikation gelten, obgleich er medienträchtige Auftritte vor Kameras nachweislich scheut. Seine Liebe zum klaren Wort belegt etwa sein Statement zur Forderung von Bundestagspräsident Norbert Lammert (CDU), Deutsch ins Grundgesetz zu schreiben. "Das sagt er einfach so", wunderte sich der nach eigenen Angaben mittlerweile 76 Jahre alte Mierscheid angesichts aktueller Themen wie dem Finanzmarktstabilisierungsergänzungsgesetz und empfahl, Lammert "sollte sagen: Landessprachenverankerungsgrundgesetzergänzungsgesetz - das würde die Regierung verstehen".

Als "scharf denkender, bodenständiger und unprätentiöser Hunsrücker" wurde der verwitwete Vater von vier Kindern schon 2004 zu seinem 25-jährigen Abgeordnetenjubiläum gewürdigt, und SPD-Fraktionschef Peter Struck räumte einmal in einem Vorwort zu einer Dokumentation über Mierscheid offen ein: "Er ist unser guter Geist." Ein guter Geist, ließe sich ergänzen, der sich um den parlamentarischen Alltag verdient gemacht hat, nicht nur mit der Vorlage eines "allseits und immer verwendbaren Musterantrags" und einer Musterrede, bei denen "xyz" nur noch durch das jeweilige Thema ersetzt werden muss.

Der Sinn fürs Praktische und das Bodenständige an Mierscheid lässt sich auch auf seiner offiziellen Bundestags-Homepage erkennen, die als Schwerpunkt seiner Arbeit auch "die Aufzucht und Pflege der geringelten Haubentaube in Mitteleuropa und anderswo" nennt. Dabei ist der Schneidermeister ade, aus Morbach im Hunsrück stammend und dort Mitglied nicht nur des Kleintierzüchtervereins, ein durchaus standesbewusster Volksvertreter: Schon zu Beginn seiner parlamentarischen Existenz verwahrte er sich dagegen, als Nachfolger des frei erfundenen Ministerialdirigenten a.D. Dr. Dr. h.c. Edmund F. Dräcker gesehen zu werden, der bereits in den 1930er Jahren durch die Akten des Auswärtigen Amtes geisterte: "Schließlich bin ich Abgeordneter und er war Beamter", argumentierte Mierscheid 1980 in einem Leserbrief. Solches Wissen um den eigenen Wert mag nicht zuletzt im Stolz auf die eigene Ahnenreihe begründet sein, in der Mierscheid neben einem Kanalarbeiter auch den als Schinderhannes bekannten "Sozialarbeiter" Johannes Bückler sieht.

Zu seinen geistigen Vätern kann Mierscheid indes einige seiner früheren Fraktionskollegen zählen. Er sei "von sozialdemokratischem Fleisch und Blut", erklärte der selbsternannte "ideelle Gesamtsozialdemokrat" einmal zu seiner Person, und bringe "die Gesamtheit sozialdemokratischen Fühlens, Wollens und Hoffens zum Ausdruck".

So weiß Mierscheid auch besser als manch anderer um sozialdemokratische Grundregeln: "Der Stimmenanteil der SPD richtet sich nach dem Index der deutschen Rohstahlproduktion der alten Länder - gemessen in Millionen Tonnen - im jeweiligen Jahr der Bundestagswahl", formulierte er das schon legendäre "Mierscheid-Gesetz", das der Partei angesichts der aktuellen Konjunkturkrise wenig Gutes zu verheißen scheint. Die Frage, ob die SPD regiert oder nicht, richtet sich aber nach dem sogenannten "Mierscheid-Zyklus", wie er unlängst wissen ließ. Danach wechseln sich bei der SPD Regierungs- und Oppositionszeiten in einem etwa 16-jährigen Zyklus ab, weshalb Mierscheid die Partei noch geraume Zeit an der Macht sieht.

Da erstaunt es nicht, dass seine Genossen Mierscheids Bild liebevoll hegen. Ohne Mierschied, nach dem im Berliner Regierungsviertel ein Steg benannt wurde, "wäre das deutsche Parlament ärmer", wusste früh schon sein langjähriger Fraktionskollege Dietrich Sperling: "Wenn es Jakob Mierscheid nicht gäbe, müsste man ihn erfinden."