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Der Stahl und der Schweinezyklus

KONJUNKTUR Die Nachfrage ist so stark eingebrochen wie nie zuvor nach 1945

20.04.2009
2023-08-30T11:23:53.7200Z
6 Min

Die Eisen- und Stahlindustrie hat leidvolle Erfahrungen mit dem Wechsel von Rezessions- und Boomphasen, wie er Schülern und Wirtschaftsstudenten seit jeher gerne am Beispiel von Landwirtschaft und Schweinezyklus erklärt wird. Bei guter Konjunktur und hohen Preisen produzieren die Hütten kräftig und der Handel hortet viel Stahl. In der Flaute stornieren Autoindustrie, Maschinenbau und Bauindustrie Aufträge. Gleichzeitig werden die Lager auf ein Minimum reduziert, was den Abwärtstrend bei den Stahlwerken beschleunigt. Die Stahlindustrie ist an diese Zyklen gewohnt, hat in den vergangenen Monaten aber einen Umschwung in bisher nicht gekanntem Tempo erlebt.

48 Prozent weniger Aufträge

Die Stahlkonjunktur ist so stark eingebrochen wie nie zuvor in der Nachkriegszeit. Die Auftragseingänge der Stahlwerke sackten in den letzten drei Monaten 2008 um knapp 48 Prozent ab. Die Hütten drosselten daraufhin ihre Rohstahlproduktion von Oktober bis Dezember um 20 Prozent, im Januar 2009 um fast 36 Prozent und im Februar um 32 Prozent gegenüber dem jeweiligen Vorjahresmonat.

Die Flaute ist indessen kein deutsches Phänomen. Weltweit ging nach Zahlen des Weltstahlverbands die Rohstahlproduktion im Januar und Februar weltweit jeweils um annähernd 25 Prozent zurück. Die deutsche Wirtschaftsvereinigung Stahl geht davon aus, dass die Rohstahlproduktion in Deutschland in diesem Jahr erstmals seit 1993 wieder unter die Marke von 40 Millionen Tonnen sinken und auf das Niveau von Anfang der 1990er Jahre von 36 bis 38 Millionen Tonnen zurückfallen wird. Die Kapazitäten seien derzeit allenfalls zu 60 Prozent ausgelastet, sagt Verbandspräsident Hans Jürgen Kerkhoff. Eine Prognose, was das für die Zahl der Arbeitsplätze bedeutet, wagt er nicht. Nur so viel: 40.000 der insgesamt 94.000 Beschäftigten der Branche arbeiten derzeit kurz.

Während Verbandspräsident Kerkhoff Chancen für eine "moderate" Erholung im zweiten Halbjahr sieht, kommt die Wirtschaftsprüfungs- und Beratungsgesellschaft Pricewaterhouse Coopers (PWC) zu einer düsteren Prognose. Die Branche steuere auf eine langanhaltende Krise zu, sagt PWC-Direktor Pierre Mangers. Maßnahmen zur Kostensenkung allein griffen zur Krisenbewältigung zu kurz. Die Stahlindustrie komme an einem Strategiewechsel nicht vorbei, glaubt Mangers. Zweistellige Kapitalrenditen seien auf absehbare Zeit passé. Damit würden die Stahlkonzerne für Finanzinvestoren deutlich an Attraktivität verlieren. Um wieder mehr langfristig orientierte Aktionäre zu gewinnen, müsse die Branche sich ökologischen Herausforderungen stärker stellen.

Neue Strategie gefordert

Forderungen nach einem Strategiewechsel kennt der deutsche Branchenprimus ThyssenKrupp zur Genüge. Jetzt sieht aber Konzernchef Ekkehard Schulz selbst Handlungsbedarf. Mehr als 40 Jahre ist er im Geschäft. In der Branche wird er ehrfurchtsvoll "Mister Stahl" genannt. "Die Entstehung und Heftigkeit der gegenwärtigen Krise ist ein Novum und auch für mich neu", sagt Schulz. Erstmals seit der Fusion der Ruhr-Giganten Thyssen und Krupp zum ThyssenKrupp-Konzern vor zehn Jahren muss das Unternehmen massiv Arbeitsplätze abbauen. 5.000 Stellen von Leiharbeitnehmern sind bereits gestrichen worden. Jetzt wird der Konzern umgebaut und der Rotstift auch bei der Stammbelegschaft angesetzt. Deutlich mehr als 3.000 Stellen sollen wegfallen. Schulz schließt auch betriebsbedingte Kündigungen nicht von vornherein aus und lehnte es schon vor Monaten gegenüber der vom ihm "sehr geschätzten Bundeskanzlerin" ab, eine Beschäftigungsgarantie abzugeben. Ebenso wie ThyssenKrupp haben auch andere Konzerne mit einer massiven Drosselung der Produktion und dem Abbau von Stellen auf die Nachfrageschwäche reagiert. Weltmarktführer Arcelor-Mittal hat seine Erzeugung um 40 Prozent zurückgefahren und will weltweit 9.000 Stellen streichen. Das ist neu für die Stahlbranche: Noch in den Absatzkrisen der 1990er Jahre galt die Devise "Menge um jeden Preis". Die Konzerne versuchten damals, mit allen Mitteln ihre Produktion zu halten und lieferten sich einen ruinösen Preiskampf. Dabei wurden hohe Verluste in Kauf genommen. Und viele Unternehmen konnten nur durch Subventionen am Leben gehalten werden.

Schneller Aufschwung

Inzwischen hat sich die Stahllandschaft in Deutschland wie in Europa geändert. Damit gibt es nach Einschätzung des PWC-Experten Mangers wesentliche Unterschiede zu früheren Krisen, die jetzt für einen schnelleren Aufschwung sprechen: Überkapazitäten haben sich von den Triade-Staaten Japan, USA und EU in die BRIC-Länder (Brasilien, Russland, Indien, China) verschoben. Zudem habe sich das Verhältnis von variablen zu Fixkosten erheblich verbessert. Dies lässt Mangers hoffen, dass die Stahlindustrie ihre Lehren aus der Vergangenheit gezogen hat und den aktuellen Abwärtstrend meistern kann: "Konsequenter Abbau von Überkapazitäten, Preisdisziplin und gegebenenfalls rigoroser Einsatz von Anti-Dumping Instrumenten", hält er für die geeigneten Mittel, um die Krise erfolgreich überstehen zu können. Nach einer Welle von Privatisierungen und Fusionen ist der Subventionswettlauf früherer Krisen vorbei.

Falsches Signal

Allerdings sehen sich Deutsche und Europäer plötzlich mit einer neuen Form des Protektionismus konfrontiert, einem Problem, das bereits überwunden schien, durch die Finanzmarktkrise aber wieder Form annimmt. So sieht etwa der "Buy American Act" der Amerikaner vor, bei öffentlichen Infrastrukturmaßnahmen im Rahmen des US-Konjunkturprogramms ausschließlich in den USA hergestellten Stahl zu verwenden. Für den deutschen Stahlverband ist dies das falsche Signal. "Die wichtigste Industrienation sendet an die restliche Welt die Botschaft, dass Marktabgrenzung ein taugliches Mittel zur Krisenbewältigung sein kann. Nachahmungseffekte rund um den Globus sind die fast unvermeidbare Folge", fürchtet Verbandsmann Kerkhoff. Es sei nicht akzeptabel, wenn protektionistische Tendenzen außerhalb Europas zunähmen und sich die EU gleichzeitig gegenüber unfairen Importen noch nachsichtiger und liberaler zeige als in der Vergangenheit, wettert er.

Kritik an China

Die Kritik zielt auch auf die größte Stahlnation China, die mit einer Rohstahlproduktion von mehr als 500 Millionen Tonnen inzwischen für annähernd 40 Prozent des Weltstahlmarktes steht. Machten chinesische Lieferungen vor fünf Jahren noch allenfalls rund zwei Prozent der gesamten Stahlimporte der EU aus, so sind es heute fast 30 Prozent. Dabei operieren die Unternehmen der Volksrepublik nach Einschätzung der europäischen Stahlverbände mit Dumpingpreisen.

Die Europäische Kommission hatte noch im Januar Strafzölle von bis zu 85 Prozent auf chinesische Schrauben verhängt. Gescheitert ist der von den nationalen Branchenorganisationen vorgeschickte europäische Stahlverband Eurofer bisher aber mit dem Versuch, die Kommission zu Antidumping-Maßnahmen gegen Flachstahlprodukte zu bewegen. Gerade in diesen schwierigen Zeiten dürfe es nicht sein, dass Länder ihre konjunkturellen und strukturellen Probleme mit unlauteren Mitteln zu Lasten der hiesigen Stahlindustrie und deren Beschäftigten exportieren, heißt es beim deutschen Stahlverband. Allein 40 Prozent der gesamten chinesischen Produktion werde von kleinen und mittleren Unternehmen unter zum Teil katastrophalen Umweltbedingungen hergestellt.

Andersherum treibt die deutsche Stahlindustrie die Sorge um, in den "wirtschaftlich schwierigen Zeiten" zusätzliche Belastungen aus dem europäischen Emissionsrechtehandel schultern zu müssen. Die indirekten Kosten des Emissionshandels durch steigende Strompreise belasteten die deutsche Stahlindustrie mit mindestens 365 Millionen Euro im Jahr und beträfen vor allem die Elektrostahlwerke, sagt Verbandspräsident Kerkhoff. Die Mehrkosten für die deutschen Hütten aus dem ehrgeizigen Reduktionsziel schätzt er auf bis zu 900 Millionen Euro pro Jahr ab 2020.

Weniger Emissionen

Derweil arbeiten die Hütten daran, die CO2-Emissionen in der Produktion zu drosseln. ThyssenKrupp, Arcelor-Mittal und die indisch-britische Corus-Gruppe wollen gemeinsam ein Verfahren testen, bei dem CO2 am Hochofen abgeschieden und anschließend wieder in die Produktion eingedüst wird.

Das Abfallgas, das von den Fachleuten Gichtgas genannt wird, soll der Eisenschmelze wieder zugeführt werden, so dass weniger Kokskohle gebraucht wird und damit weniger CO2 in die Atmosphäre gelangt. Erproben wollen die Konzerne die Technik ab dem kommenden Jahr in einem neuen Hochofen in Eisenhüttenstadt. Ein anderes Verfahren testet Arcelor-Mittal ab 2011 in Lothringen. Dort soll CO2 aus dem Abgas abgetrennt und in tiefen Bodenschichten einlagert werden.

Arcelor-Mittal würde die Forschungsprojekte am liebsten über ein Investitionsabkommen mit den nationalen Regierungen und der EU vorantreiben, um auf diesem Weg öffentliche Mittel einzuheimsen. Verwiesen wird auf die zunächst fehlende Rentabilität eines solchen Produktionsschrittes. "Effiziente und umweltfreundliche Stahlproduktion muss Priorität haben", fordert denn auch der indische Konzernchef Lakshmi Mittal.