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Viel Pomp und lautes Klopfen

REICHSTAGSGEBÄUDE Vor 125 Jahren feierte Berlin die Grundsteinlegung des Wallot-Baus

29.06.2009
2023-08-30T11:24:01.7200Z
7 Min

Zum Bauen gehören Riten des Glaubens und des Aberglaubens - Grundsteinlegung, Richtfest, Schlusssteinlegung: Ihr Ursprung liegt im Dunkeln; für ein neues Parlamentsgebäude dürfte die erste nachgewiesene Grundsteinlegung die des US-Kapitols am 18. September 1793 sein - vom Präsidenten George Washington und nach den Riten der Freimaurer.

Wer zuerst die Idee hatte, für das Reichstagsgebäude eine Grundsteinlegungsfeier zu planen, ist nicht bekannt. Bekannt dagegen ist, dass das Parlament selbst am wenigsten damit zu tun hatte; ja, dem Reichstag kam nicht in den Sinn, eine Feier zu planen - Berlins politische Repräsentanz, Stadtverordnetenversammlung und Magistrat, hatte mehr mit der Feier zu tun als das Parlament.

Unrealistische Terminvorschläge

Über den Termin herrschte lange Unklarheit. Bereits im Juli 1882 tauchte als Datum der 18. Januar 1883, der Tag der Kaiserproklamation 1871, auf. Der für eine Feier zuständige Minister von Boetticher machte Vorschläge, ohne dass eine Chance auf ihre Verwirklichung bestanden hätte. In seiner Umgebung wurde der 22. März (Geburtstag des regierenden Kaisers Wilhelm I.) oder der 10. Mai (Frankfurter Friedensschluss nach dem Krieg gegen Frankreich) genannt; vom Parlament kamen keine Vorschläge.

Dass diese Terminvorschläge unrealistisch waren, lag daran, dass sich die Entwurfsüberarbeitung über 18 Monate erstreckte, deren Ergebnis erst Ende 1883 genehmigt wurde. Und: Nicht das Parlament selber, sondern der Kaiser persönlich war die letzte Instanz.

Boetticher hatte am 28. August 1883 einen Versuch unternommen: In einem langen Brief schlug er entweder den 5. beziehungsweise 6. September 1883 vor, was Wilhelm verwarf, weil der Kronprinz Friedrich, der spätere Friedrich III., zu diesem Termin in Bayern weilen würde. Da absehbar war, dass er selbst die Vollendung des Baues nicht mehr erleben würde, bestand der 87-jährige Monarch auf der Teilnahme seines Sohnes und Nachfolgers. Er konnte nicht ahnen, dass auch sein Sohn Friedrich III. noch vor der Fertigstellung des Reichstags sterben würde.

Detaillierte Planung

In den folgenden Monaten waren die Zeitungen voller Gerüchte über die Terminvorschläge. Erst im Frühjahr 1884 kam die Planung richtig ins Rollen. Boetticher schrieb Wilhelm am 21. Mai, dass er bereits ein Programm, einen Entwurf der Urkunde sowie ein Verzeichnis der sonstigen Gegenstände ausgearbeitet habe, die in den Grundstein eingelegt werden sollten; er schlug als Datum, "falls Allerhöchstdero Reisedispositionenen damit verträglich sein sollten, Montag den 9. Juni, entgegengesetzten Falls Freitag den 6. Juni" vor.

Wilhelm antwortete: "Auf den Bericht ... erkläre Ich Mich mit dem Inhalt ... vollkommen einverstanden.... Als Tag und Stunde der Feier bestimme Ich den 9. Juni d. J. um 12 Uhr." Absolutistischer geht es wohl nicht.

Als Platz für den Grundstein wurde vorgeschlagen: "in der Mitte des Bauplatzes, also unter den Haupträumen des künftigen Hauses". In der Mitte des "Festplatzes" sollte "für Eure Majestät und Allerhöchstdero Umgebung [ein] ... Pavillon [stehen]. Eure Majestät würden danach den Wagen unmittelbar vor dem Pavillon verlassen und diesen durchschreiten, auf den Festplatz treten mit dem Ausblick auf die Siegessäule. Die Tribünen zunächst dem Pavillon rechts und links sollen dem diplomatischen Korps, der Generalität, den nicht stimmführenden Bevollmächtigten zum Bundesrath und den Wirklichen Geheimen Räthen nebst deren Damen reservirt werden. Die weiter anschliessenden Tribünen sind für die Reichs- und Staatsbehörden, für Deputationen der Häuser des preußischen Landtags und der städtischen Behörden von Berlin, sowie für die Damen der Mitglieder des Reichstags und der eingeladenen Beamten bestimmt. Die abgesondert gelegenen bei-den Tribünen rechts und links zum Königsplatz hin sollen von Privatunternehmern zur Aufnahme des amtlich nicht eingeladenen Publikums errichtet werden. Die Baustelle mit dem Grundstein liegt auf leicht abfallender Fläche von dem Kaiserlichen Pavillon. Alle diejenigen Herren, welche bei der Grundsteinlegung mitwirken, sollen rechts und links unmittelbar neben dem Grundstein ihren Stand erhalten, während hinter ihnen die Mitglieder des Reichstags in weiteren Bogen die Baustelle umgeben. In der Umgebung der Baustelle würden hiernach abgesehen von den Sängern und der Musik, etwa 250 Personen ihren Platz finden. Die amtlichen Tribünen sollen auf etwa 600 Personen, die weiterhin gelegenen Privattribünen auf etwa 300 Personen berechnet werden. Damit dürfte eine angemessene Füllung des Platzes gegeben sein." Boetticher schrieb auch, dass Berlin die Ausschmückung des Platzes und der näheren Umgebung in Aussicht gestellt habe.

Wie man sieht, der Reichstag kam entschieden zu kurz. Zum Termin, zur Stelle des Grundsteins, zur Auftragsvergabe und zum Kapselinhalt wurde das Parlament nicht befragt. Nicht nur das Wetter sollte den Reichstag im Regen stehen lassen: Das Protokoll beziehungsweise das Beamtentum hatte es bereits getan.

Der Grundstein, ein Block aus Rackwitzer Sandstein mit den Abmessungen 110 x 90 x 75 Zentimeter, wurde von der Firma Hofsteinmetzmeister Wimmel & Comp. beschafft und bearbeitet, den Auftrag für die Herstellung der Dokumentenkapsel aus poliertem Kupfer mit von Löwenmäulern gehaltenen Griffen in den Maßen 52 x 26 x 11 Zentimeter erhielt der Hofkupferschmiedemeister Otto. In die Kapsel kamen der Erlass "An das Deutsche Volk" über die Erneuerung der deutschen Kaiserwürde vom 17. Januar 1871, die Verfassung des Deutschen Reiches, das Handbuch für das Deutsche Reich des Jahres 1884, die Baugeschichte des Reichstagsgebäudes bis zur Grundsteinlegung, Pläne von Berlin und ein vollständiger Satz der Reichs- münzen.

Am 30. Mai gab der Magistrat bekannt, dass die Stadtpläne schon erworben und überreicht worden seien. Der Magistrat hatte "zur Ausschmückung der von dem Brandenburger Thore nach dem Bauplatz führenden Zufahrtstraße und zur Beschaffung der in den Grundstein zu legenden Pläne von Berlin etc. einen Betrag bis auf Höhe von 10.000 M aus dem Dispositionsquantum für unvorhergesehene Ausgaben" bewilligt. Dafür erhielt die Stadtverwaltung 18 Tribünen-Karten.

Kein »Kaiserwetter«

Mit dem Nahen des historischen Tages steigerte sich die allgemeine Aufgeregtheit. Als die Polizei von einem bekannten Landstreicher einen Hinweis über ein angeblich geplantes Attentat erhielt, blieb ihr nichts anderes übrig, als am Vorabend der Feier mit einer Baukolonne anzurücken und die Planken im Kaiserpavillon aufzunehmen, den darunterliegenden Raum zu untersuchen und am Ende alles wieder zuzunageln. Nichts wurde gefunden; die Presse verschwieg diese Episode.

Der 9. Juni 1884: Berlin ist beflaggt, das Volk legt Festtagskleidung an, strömt in Massen zur Baustelle. Aber es regnet in Strömen: "Es war kein Kaiserwetter." Dennoch verlief die Feier "trotz unausgesetzten Regens" würdig.

Man muss bemerken, dass nur ein Foto der Feier bekannt ist - von Ottomar Anschütz, von einem Fenster des Baubüros aufgenommen - dass aber die meisten der Teilnehmer es nie zu Gesicht bekamen, denn: 1884 gab es noch keine Möglichkeit, das Foto in Druck zu reproduzieren.

Die Feier verlief fast ohne Panne. Als Wilhelm seine Hammerschläge tat, konnte man seine Rede nicht verstehen, weil er zu leise sprach. Als Prinz Wilhelm, des Kaisers forscher Enkel und zukünftiger Kaiser Wilhelm II., seine Hammerschläge tat, hat er dies so energisch getan, dass die Versammlung "mit ihrem Beifall nicht zurückhalten" konnte. Ein englischer Reporter bemerkte auch, dass beim Überreichen der Kelle an den Kaiser ein Unglück geschah: Als Bundesratsmitglied Graf Lerchenfeld Wilhelm ein blaues Samtkissen mit der daraufliegenden Kelle überreichte, fiel sie zu Boden, "ob weil der Übergeber nervös oder der Empfänger etwas ungelenk, ist schwer zu sagen. Peinlichkeit und Geflüster! Was bedeutet das für die Zukunft?"

Es folgten viele Hammerschläge: Nach Wilhelm und seinen Nachfolgern durften noch die Kaiserin, die Kronprinzessin, die Prinzessinnen und die Prinzen des königlichen Hauses, der Reichskanzler, die Generalfeldmarschälle, die stimmführenden Bevollmächtigten zum Bundesrat, die Mitglieder des Königlich-Preußischen Staatsministeriums, die Chefs der Reichsämter, und erst dann der Präsident und die Vizepräsidenten des Reichstages, die Mitglieder der Reichstagsbaukommission sowie der Architekt und sein Bauleiter auf den Grundstein hämmern, alles in allem etwa 75 Personen.

Dass Bismarck in seiner weißen Kürassier-Uniform erscheinen würde, galt allen Beteiligten als ausgemacht. Dass aber selbst Reichstagspräsident Levetzow in der Uniform eines Landwehrmajors der Reserve erschienen war, führte zu abfälligen Bemerkungen: "Die Überschätzung des militärischen Berufes in unserem gesammten Staats- und öffentlichem Leben", schrieb die "Frankfurter Zeitung"; "... der Militarismus und Bureaukratismus ist es, dessen Auswüchse uns in diesem Falle wieder ganz besonders bemerkbar geworden sind. Diese gilt es zu bekämpfen, nicht aber den armen Herrn von Levetzow, der, wie ich zu wissen glaube, sich durchaus nicht zu seinem Vergnügen in die Majorsuniform steckte, lediglich, weil er weiß, daß der Kaiser, mit dem er bei dieser Gelegenheit persönlich verkehren muß, sein Erscheinen in Civil als einen Affront auffassen würde."

Achtung der Volksvertretung

Über die Feier gab es viele Kommentare. Ein englisches Blatt sah in ihr den Beweis dafür, dass selbst im kriegerischen Deutschland die Volksvertretung Achtung genieße und dass Deutschland seit 13 Jahren friedfertig sei, weil es so stark sei, dass keiner es anzugreifen wage. Deutsche Zeitungen vermerkten den englischen Beifall selbstgefällig als Indiz dafür, dass England großen Wert auf eine Freundschaft mit dem Deutschen Reich lege.

Paul Wallot, Architekt des Reichstagsgebäudes, war von alldem hin- und hergerissen. Die Feier fand er "entschieden großartig". Allerdings waren ihm die Reden und Hymnen wie ,Heil Dir im Siegerkranz' und ,Die Wacht am Rhein', die vielen ,Rufe wie Donnerhall' entschieden zu viel. Davor konnte sich keiner retten: Es war "zum an die Wände hinauflaufen!"