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Beschwerliche Bedingungen

RÜCKBLICK In der ersten Legislaturperiode wurden nicht nur rühmliche Rekordmarken gesetzt

14.09.2009
2023-08-30T11:24:07.7200Z
4 Min

Beethoven, natürlich - wer sonst sollte in Bonn gespielt werden als der größte Sohn der nicht so großen Stadt bei der konstituierenden Sitzung des ersten Deutschen Bundestages am 7. September vor 60 Jahren? Um 16.05 Uhr also begann die Sitzung im neuen, zunächst 1.000 Quadratmeter großen Plenarsaal mit einem Stück Ludwig van Beethovens; das Orchester der Stadt Bonn spielte eine Ouvertüre mit dem passenden Namen "Weihe des Hauses". Zuvor, um 11.00 Uhr, hatte sich bereits der Bundesrat konstituiert und den nordrhein-westfälischen Regierungschef Karl Arnold (CDU) zu seinem ersten Präsidenten gewählt.

Eröffnet wurde die Bundestagsitzung von dem Alterspräsidenten Paul Löbe (SPD). Nach NS-Diktatur und Weltkrieg konnte es als hoffnungsvolles Zeichen parlamentarischer Kontinuität gewertet werden, dass diese Aufgabe ausgerechnet dem letzten demokratischen Reichstagspräsidenten zufiel: Löbe hatte dieses Amt von 1920 an mit einer kurzen Unterbrechung inne, bis er 1932 von dem Nationalsozialisten Hermann Göring verdrängt wurde.

Diktieren auf Treppenstufen

Als sich Löbe zu seiner Eröffnungsrede erhob, bot sich ihm ein heute ungewohntes Bild, was die Sitzverteilung im neuen Plenarsaal anbetrifft. 402 Abgeordnete gehörten dem am 14. August 1949 gewählten Parlament an; hinzu kamen 8 nicht voll stimmberechtigte Berliner Vertreter. Über die "provisorische Sitzordnung" hatte sich der vorläufige Ältestenrat erst am Tag der historischen Sitzung verständigt, und nun saßen vor dem Alterspräsidenten Löbe von links nach rechts die Abgeordneten von KPD, SPD, CDU/CSU, FDP, Deutscher Partei (DP), Bayern-Partei und der Deutschen Konservativen Partei/Deutschen Rechtspartei (DKP/DRP). In der Mitte hinter der Unions-Fraktion wurden die Abgeordneten der Wirtschaftlichen Aufbau-Vereinigung (WAV) sowie der Zentrumspartei platziert und dahinter die fraktionslosen Abgeordneten.

Bei der Wahl vom 14. August, bei der es eine Fünf-Prozent-Klausel auf Landesebene gab, waren auf CDU und CSU 139 Mandate entfallen; hinzu kamen zwei Vertreter Berlins. Zweitstärkste Kraft waren die Sozialdemokraten geworden, die über 131 Mandate verfügten und zudem 5 Berliner Abgeordnete stellten. Auf Platz drei war die FDP mit 52 Mandaten plus einem Berlin-Vertreter gelandet. Bayern-Partei und DP waren auf jeweils 17 Mandate gekommen, die KPD auf 15 und die WAV auf 12. Die Zentrumspartei hatte 10 Mandate und die DKP/DRP 5; zudem gab es 3 unabhängige Abgeordnete und einen Vertreter des Südschleswigschen Wählerverbandes (SSV). So bunt gemischt sich das Hohe Haus von 1949 parteipolitisch präsentierte, so eintönig erschien es übrigens in anderer Hinsicht: Nur 28 Frauen gehörten dem Bundestag bei seiner ersten Sitzung an.

Für viele der Abgeordneten war die parlamentarische Arbeit Neuland, andere verfügten bereits über entsprechende Erfahrungen. 34 Bundestagsabgeordnete hatten zuvor dem Parlamentarischen Rat angehört. 6 waren im Länderrat der amerikanischen Besatzungszone gewesen, 40 im Zonenbeirat der britischen Zone und 56 im Wirtschaftsrat für das Vereinigte Wirtschaftsgebiet. 29 Abgeordnete waren bereits bis 1933 Mitglied des Reichstags gewesen und 3 saßen schon 1919/20 in der Weimarer Nationalversammlung.

Die Arbeitsbedingungen in Bonn waren zunächst alles andere als komfortabel. Für die insgesamt 410 Abgeordneten standen nur 50 Büros zur Verfügung, beschrieb Bundestagspräsident Norbert Lammert (CDU) 60 Jahre später auf dem Festakt (siehe oben) die damalige Misere. Das habe gerade für Präsidium und Fraktionsvorstände gereicht; die restlichen Abgeordneten wurden mit einem Postfach in einem Stahlschrank plus Sicherheitsschlüssel abgefunden. "Geschrieben und diktiert wurde in den Gängen und auf Treppenstufen", fügte Lammert hinzu und zitierte den früheren Parlamentspräsidenten Richard Stücklen (CSU), der auch dem ersten Bundestag angehört hatte: "Der Abgeordnete von '49 musste, wenn er sitzen wollte, ins Plenum oder ins Restaurant. Kein Wunder, dass die Plenarsitzungen damals stärker besucht waren als heute."

Häufiger waren sie auch: Nie wieder gab es in einer Legislaturperiode so viele Plenarsitzungen wie in der ersten - 282 Plenarsitzungen absolvierte der erste Bundestag mit einer Gesamtsitzungszeit von 1.800 Stunden und 52 Minuten. Dabei verabschiedete das Parlament 545 Gesetzentwürfe, eine Zahl, die erst in der 13. Wahlperiode von 1994 bis 1998 übertroffen wurde.

Auch andere, nie wieder erreichte Rekordmarken setzten die 1949 gewählten Abgeordneten: Zweimal musste die Sitzung in der ersten Legislaturperiode wegen störender Unruhe unterbrochen werden - was nach 1953 überhaupt nur noch einmal geschah -, 17 Mal wurden Abgeordnete von der Sitzung ausgeschlossen, 40 Mal wurde einem Redner das Wort entzogen und 156 Mal ein Ordnungsruf ausgesprochen.

Friedlich blieb die erste Sitzung: Nach Löbes Ansprache wählten die Abgeordneten in geheimer Abstimmung den CDU-Politiker Erich Köhler zum Parlamentspräsidenten und per Akklamation seine Vize Carlo Schmid (SPD) und Hermann Schäfer (FDP). Es folgte Köhlers Antrittsrede, dann noch einmal Beethoven, der letzte Satz der fünften Sinfonie. Eine kurze Antragsberatung noch, Überweisung an den Ältestenrat, und um 18.18 Uhr konnte Köhler die Sitzung schließen: Der Bundestag hatte seine Arbeit aufgenommen.