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Die große Täuschung

KRIEG Der amerikanischer Journalist Dexter Filkins berichtet über seine Zeit im Irak und in Afghanistan

12.10.2009
2023-08-30T11:24:09.7200Z
4 Min

Für die nächste Ausgabe brauchten sie dringend eine Leiche: Also sprintete Dexter Filkins, Journalist der "New York Times" mitsamt seinem Fotografen während der nächtlichen Angriffe zum Minarett. Im Treppenhaus drängten US-Marines sie beiseite und stürmten als Erste die Treppe hoch. Bei der Aktion wurde Corporal William L. Müller von den Aufständischen erschossen. Filkins widmet ihm, "der voran ging", und zwei irakischen Kollegen, die "bei ihrer Suche nach der Wahrheit getötet wurden", sein unvergessliches Buch über die Kriege in Afghanistan und im Irak.

Aus 561 Notizheften, die der amerikanische Journalist aus seinen Einsätzen mitbrachte, entstand ein ehrliches Buch. Filkins, der vier Jahre lang aus dem Zweistromland berichtete, interessiert sich für die Empfindungen der Soldaten, die in diesen Krieg fern der Heimat geschickt wurden und in dem mehr als 4.000 von ihnen starben. Er beschreibt Auftrag und Alltag der Soldaten und ihr stets von Scharfschützen bedrohtes Leben. Er begleitet die Soldaten als "embedded journalist" bei ihren Einsätzen, schiebt mit den Marines Nachtwache, spricht mit ihnen über ihre Träume, ihre Hobbys und das Töten. Der Gouverneur der Provinz Anbar, der 29 Attentate überlebte, zeigte ihm persönlich die Orte, wo ihm die Selbstmordattentäter auflauerten. Filkins kennt auch die Geschichten aus irakischer Sicht: Er weiß, dass die Einheimischen die Amerikaner nicht ernst nehmen und ihnen nur das berichten, was sie hören wollen. Sie haben es leicht, denn das Verständnis für die fremde Kultur ist bei den US-Soldaten nicht sehr ausgeprägt: So erzählt der Journalist eine Anekdote über den für Bagdad verantwortlichen General. Der spricht im Laufe einer halben Stunde den Namen des irakischen Ministerpräsidenten gleich dreimal falsch aus: "Molokai", "Maliiki", "Malaaki" - "als handle es sich um eine exotische Pflanze".

Bombenterror

"Herzlichen Glückwunsch! Euer Bruder wurde bei einer Märtyreroperation getötet", teilten die Anrufer der Familie eines Terroristen telefonisch mit. Bagdad im Terrorrausch. "Bum. Bum. Bum". Filkins lebte in der "Roten Zone", also mitten unter den normalen Bürgern der irakischen Hauptstadt, wo täglich bis zu zwölf Bomben detonierten und Dutzende, mitunter Hunderte Menschen in den Tod rissen. "Ich glaube, für sie war es wie ein Porno. Ich glaube, sie fuhren darauf ab. Die Aufständischen machten Videos von ihren Selbstmordanschlägen, als filmten sie sich beim Sex." Allein 103 verschiedene Gruppen übernahmen zwischen Mai und Oktober 2005 die Verantwortung für die Angriffe auf Amerikaner und Iraker.

Ausführlich erklärt der Journalist die Hintergründe des Widerstands und die Konfliktfelder, die nach der Intervention der USA im Irak entstanden: angefangen mit dem islamistischen Terrorismus der Al-Qaida über Bandenkriminalität bis hin zum Bürgerkrieg zwischen den Volks- und Glaubensgruppen.

Der Autor, der so gut schreiben kann wie sein großer Landsmann Ernest Hemingway, erlebt die irakische Hölle, in der mit Elektrobohrern gefoltert wird und selbst Kleinkinder nicht sicher sind vor Entführung: Hauptsache, es bringt Geld. Er nennt es das "Ökosystem des Schreckens".

Dann kommt die Wende - wie in jedem Bürgerkrieg: Die Todesschwadronen der Badr-Brigaden und die Mahdi-Armee bekommen Schulterklappen mit dem Schriftzug "Innenministerium". Seitdem stellen sie gemeinsam die Polizeikräfte der schiitischen Regierung.

Irakisches Hütchen-Spiel

"Der Irak war von Anfang an ein großes Täuschungsmanöver", schreibt Dexter Filkins und meint damit das Hütchen-Spiel, bei dem die Iraker die ganze Zeit die Becher vertauschten und die Amerikaner zu erraten suchten, unter welchem der Stein lag. "Wer organisiert den Widerstand?", fragte der Journalist einmal einen amerikanischen Diplomaten und bekam eine nichtssagende Antwort. Jahre später wurde ihm klar, dass die Diplomaten ihm nichts sagten, weil sie selbst nichts wussten.

Spannend lesen sich die Schilderungen seiner Ausflüge als Jogger in Bagdads "Rote Zone". Die alltägliche Lebensgefahr spürte Filkins schon bald nicht mehr. Nur beim Laufen in Begleitung von bis zu hundert streunenden Hunden fühlte er sich überhaupt noch lebendig.

In Afghanistan ist Filkins dem legendären Achmed Schah Massud begegnet und er berichtet von den Besonderheiten der Kriegführung am Hindukusch. "Der Krieg in Afghanistan war eine ernste Sache, aber so ernst auch wieder nicht. Er war Teil des Alltags. Er war ein Job. Die Einzigen, die dabei verloren, schienen die Zivilisten zu sein."

Auch vor vermeintlich "unpatriotischen" Tönen, die den Ausgangspunkt des Afghanistan-Kriegs, die Terroranschläge vom 11. September 2001, in Frage stellen, scheut Filkins nicht: "Meine Landsleute fanden, es sei das Schlimmste, was jemals geschehen war, das Ende der Zivilisation. Doch in der Dritten Welt geschehen jeden Tag solche Dinge. Erdbeben, Hungersnöte, Seuchen". Seinem packenden Buch wünscht man möglichst viele Leser.

Dexter Filkins:

Der ewige Krieg. Innenansichten aus dem "Kampf gegen das Terror".

S. Fischer Verlag, Frankfurt/M. 2009; 384 S. 22,95 €