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Das »Bauwerk« des Todes

DIE GRENZE Mauer und Stacheldraht offenbarten das hässliche Gesicht der SED-Diktatur

12.10.2009
2023-08-30T11:24:10.7200Z
4 Min

Es war wohl eine von Karin Gueffroys besten Ideen: Sie versteckte die Todesanzeige für ihren Sohn aus der "Berliner Zeitung" in einer Zündholzschachtel und bat eine Rentnerin, die von Ost nach West reisen durfte: "Geh damit zum Sender Freies Berlin". Am 22. Februar 1989 zeigte die Abendschau die Anzeige. Ein anonymer Anrufer aus Ost-Berlin habe versichert, es handle sich um den Toten an der Mauer.

"Für uns alle unfassbar - er war noch so jung. Wir trauern in unendlichem Schmerz und voll Liebe um Chris Gueffroy, der durch einen tragischen Unglücksfall von uns gegangen ist." Die DDR bestritt, die Schüsse in der Nacht zum 6. Februar am Britzer Zweigkanal hätten ein Menschenleben gekostet. SED-Staatschef Erich Honecker versicherte Tage vor den Schüssen dem Kieler Ministerpräsidenten Björn Engholm (SPD): "An der Grenze ist es still!"

Perfektes Grenzregime

Nach der Anzeige konnten sich vier Westkorrespondenten trotz Stasi-Kontrollen zum Friedhof durchschlagen, waren unter den Trauernden. Der 20-Jährige war der erste Mauertote, über dessen Beerdigung Journalisten berichteten, und der letzte, den Schüsse töteten. Neun Monate später fiel die Mauer. 28 Jahre früher, am 24. August 1961, töteten Schüsse den 24-jährigen Günter Litfin; er wollte die Spree durchschwimmen. Erste Tote an der Mauer war Ida Siekmann, 58 Jahre. Sie starb am 22. August in der Bernauer Straße beim Sprung aus dem dritten Stock.

136 Tote allein an der Mauer in Berlin zählt bislang der Historiker Hans-Hermann Hertle. Mindestens 116 Tote, erschossen an der innerdeutschen Grenze oder Opfer der Splitterminen oder bei der Flucht über die Ostsee umgekommen, sind noch hinzuzurechnen. (siehte unten)

Mauer und Stacheldraht perfektionierten das Grenzregime. Es gab kein Jahr, in dem es dort keine Toten gab. Todesschüsse blieben die größte Hypothek der DDR, zeigten bis 1989 das hässliche Gesicht der Diktatur.

Am 13. August 1961 begann es mit Stacheldraht und Barrikaden, nach wenigen Tagen mit der Mauer. Das "Bauwerk" hatte zwei Mauern, eine "freundwärts" und eine "feindwärts" zum Westen. Um außerhalb Berlins hinzugelangen, musste man durch bis zu fünf Kilometer breites Grenzgebiet. Da griffen Volkspolizisten, Stasi, Grenzsoldaten Fremde auf. Zwischen den Mauern lag der "Todesstreifen", bis zu 150 Meter breit. Hinter der ersten Mauer alarmierten Drähte bei Berührung Wächter. Auf Hunde-laufgräben folgte ein Kolonnenweg mit Wachtürmen. Ein frisch geharkter Streifen sollte Fußspuren zeigen, ein mit Betonplatten verstärkter Graben Autos aufhalten. Die zweite Mauer war 3,50 Meter hoch, ein glattes Rohr darauf verhinderte festen Halt.

Urteile wegen Totschlags

Karin Gueffroy verließ im September 1989 die DDR. Nach dem Mauerfall brachte sie mit ihrer Anzeige die Verfahren gegen Verantwortliche für die Tötungen ins Rollen. Das Landgericht Berlin arbeitete heraus: Grenzsoldaten wussten um ihr unrechtes Tun. Die der Ideologie vertrauenden Schützen hätten nachdenklich werden müssen: Wer sich weigerte zu schießen, kam in die Küche. Überstand er die Zeit ohne Schüsse, gaben ihm Kameraden weiße Handschuhe. Besuchten Staatsgäste die DDR, war Schießen verboten. Das sind durchaus Belege für den Schießbefehl, den führende SED-Politiker in den Prozessen bestritten. Im Prozess gegen das SED-Politbüro nannte der Staatsanwalt den Auftrag an die Grenztruppen, die Unverletzlichkeit der Grenze zu sichern, einen "ideologischen Schießbefehl".

Erst die Prozesse zeigten den Umgang mit Opfern und Angehörigen: Auf LKW-Pritschen kamen angeschossene Flüchtlinge ohne ärztliche Hilfe in festgelegte Krankenhäuser. Sie hätten einen Anschlag auf ein militärisches Objekt verübt, wurde Angehörigen gesagt. Die Stasi führte Regie: Die Leichen ließ sie verbrennen. Verwandte mussten lügen. Schützen wurden belobigt, erhielten Sonderurlaub. Manchmal sagten Stasi-Leute, die Flucht sei gelungen. Auf den Einwand, der Angehörige melde sich nicht, entgegneten sie, er wolle von der Familie nichts wissen. Von sechs Mauertoten fehlt auch heute jede Spur. Das Schweigekartell aus Ärzten, Polizisten, Staatsanwälten, Friedhofsverwaltern wirkt noch immer.

Gerichte in Berlin und den neuen Ländern fällten Urteile wegen Totschlags. Für Mauerschützen gab es bis zu zwei Jahre auf Bewährung. Anstifter bekamen Haftstrafen ohne Bewährung: Regimentskommandeure, Chefs der Grenzkommandos, Politbüro-Mitglieder sowie Chefs der Grenztruppen. Ihre Strafen lagen bei zweieinhalb bis sechseinhalb Jahren. Mitglieder des Nationalen Verteidigungsrats, verantwortlich für den Schießbefehl, erhielten bis zu siebeneinhalb Jahre. Der Bundesgerichtshof bestätigte die Urteile: Töten unbewaffneter Flüchtlinge sei Menschenrechtsverletzung.

Einstimmig befand der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg: "Deutschland hat die Europäische Menschenrechtskonvention nicht verletzt". Verfassung und Gesetze der DDR erkannten Verhältnismäßigkeit der Mittel und Schutz menschlichen Lebens ausdrücklich an. Das Gebot der DDR-Verfassung, menschliches Leben zu sichern, schränkte die Staatsraison ein, die Grenze um jeden Preis zu schützen. Das Recht auf Leben war zur Tatzeit höchstes Rechtsgut auf der Werteskala international anerkannter Menschenrechte. Niemand kann sich auf eine dazu im Widerspruch stehende Praxis berufen.

Der Straßburger Richterspruch ließ die Kritik nicht verstummen. Für manche sind die Urteile "Siegerjustiz", für andere sind sie zu milde. Karin Gueffroy nennt sie "in Ordnung", weil deutsche Gerichte und ein europäisches die Schuld der Verantwortlichen feststellten.

Der Autor war von 1977 bis 1990 DDR- Korrespondent der "Frankfurter Rundschau"