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Zwei Blicke aufs Zusammenwachsen

ESSAY II Ein west- und ein ostdeutscher Autor spüren der inneren Einheit nach

12.10.2009
2023-08-30T11:24:10.7200Z
10 Min

Die innere Einheit der Deutschen war nie so groß wie im Jahr ihres unerwarteten Zusammenschlusses, als der Wahnsinn groß war und sich am Horizont blühende Landschaften abbildeten. Seitdem sind wir einen langen Weg gegangen, immer bewusster und immer weiter weg von der unbewussten inneren Einheit des Anfangs. Die eine Seite konnte es nicht gut ertragen, die andere alimentieren zu müssen, während diese andere Seite so paradiesische Vorstellungen vom Leben in der Bundesrepublik hatte, dass sie gar nicht erst auf die Idee kam, Dankbarkeit zu empfinden für die entfesselten Verhältnisse.

Die Westler stellten entsetzt fest, dass die Ostler die Gleichheit mehr liebten als die Freiheit (es gibt ja immer diese Umfragen) und verübelten ihnen, dass ihnen die D-Mark ("Das Beste, was wir haben") gleichsam in den Schoß fiel (Und sie konnten doch nicht damit umgehen!). "Der Spiegel" meinte, sich besonders gut zu verkaufen, wenn er die sich scheinbar ständig wiederholende Titelgeschichte "Milliardengrab Osten" druckte. Zeige mir den Westdeutschen, der nicht glaubt, sein Lebensstandard sei wegen der untüchtigen Ostdeutschen erheblich gesunken und ich sage, wir können die innere Einheit erreichen, aber du zeigst ihn mir nicht.

Ich habe übrigens gar nichts gegen die Euphorie eines Helmut Kohl in der Stunde, da wir nichts voneinander wussten. Ich habe Verständnis für die fehlerhaften Konzepte, schon weniger Verständnis für die Absahner und Schurken, die in den Osten gingen, angeblich um zu helfen, tatsächlich, um sich gesundzustoßen. Ich habe wiederum Verständnis dafür, dass man sich in einer freien Gesellschaft selbst vor eben diesen schützen muss, zumal, wenn man doch eben erst noch für die Befreiung vom vormundschaftlichen Staat auf die Straße gegangen war und für den Anschluss gestimmt hatte.

Auf einen kleinen Nenner heruntergerechnet, steht es um die innere Einheit der Deutschen gar nicht mal schlecht. Da sieht man viele Ostfrauen mit westdeutschen Brokkolifrisuren, todschick auch mit Löckchen und Strähnchen; der ostdeutsche Kleingärtner ist so hochelektrifiziert und lärmintensiv wie sein westdeutscher Spartenbruder; der ostdeutsche Genießer sagt wie der westdeutsche Gourmet bei den ersten Bissen kenntnisreich: sehr lecker!, und die Zahl der "Bild"-Analphabeten wird auch im Osten immer größer.

Sollten wir nicht erst einmal über diese kleinen Annäherungen froh sein? Eher nicht. In Wahrheit bleibt es dabei: Der Igel kann den Hasen nicht wirklich überholen. Die Augen des Hasen sind zwar noch so schlecht wie im Märchen, aber er trägt jetzt eine sehr günstige Gleitsichtbrille vom Fielmann-Optiker, er sieht es, wenn man ihn betrügen will, und ein anderer als der, mit dem zusammen er losgerannt ist, sagt: Ich bin schon hier.

In den Jahren der Trennung haben wir uns stärker, als wir dachten, auseinander- und in den Jahren der (äußeren) Einheit weniger, als wir meinten, zusammengelebt. Meist sind es lächerlich kleine Dinge beim Anderen, an denen wir uns reiben, aber es gibt auch erhebliche. Der Westler ist geld-, der Ostler dagegen beziehungsfixiert. Was kann der Westdeutsche Besseres über eine Sache sagen, als dass sie sich rechne? Wo fühlt sich der Ostdeutsche wohler als im Kreis seiner Lieben, denen das Pech genauso an den Schuhsohlen klebt wie ihm selbst? Er ist im geeinten Deutschland kleinmütig geworden, und gut so, wenn er das hinbekommen hat - sonst könnte er noch Depressionen kriegen.

Les illusions perdues - der Roman, der für den Ostdeutschen noch einmal geschrieben werden müsste, hieße "Verlorene Illusionen". Er steht verloren am Rand, wenn die Schreihälse im Fernsehen die Uschi (Diesl) oder die Anni (Friesinger) bejubelten oder bejubeln. Da kann die Kati (Wilhelm) oder die Claudia (Pechstein) noch so gut sein: Sie haben nicht den richtigen Stallgeruch sind nicht voll akzeptiert, die Claudia (Pechstein) schon gar nicht, ihre Blutwerte sind höchst verdächtig, was man ja eigentlich bei allen Ostlern erwartet.

Gesellschaft der Medienopfer

Das Feuilleton ist da schon liberaler, es schätzt die jungen ostdeutschen Schriftstellerinnen, die sich über Leiden ihrer Eltern an der DDR erheitern können, und als Lieblingsostler des West-Feuilletons hat jetzt der großbürgerliche Panzerfahrer Tellkamp den Weltdichter Grünbein abgelöst. Warum auch nicht.

Erklär mir Sprache. Erklär mir Gesinnung. Wie kann es sein, dass die verächtlichste Beschimpfung, die Westdeutsche gebrauchen, das Wort "Gutmensch" ist? Das kann so sein, weil sie, die Westler, aus der Verachtung und Lächerlichmachung des moralischen, skrupulösen Zeitgenossen die Legitimation für die eigenen kleinen und auch größeren Schuftigkeiten beziehen, ohne die sie nicht auskommen, wenn sie Karriere machen wollen, und das müssen sie, sonst fallen sie irgendwann noch den Sozialämtern zur Last.

Da wir in einer Mediengesellschaft leben, leben wir auch in einer Gesellschaft der Medienopfer. Obgleich der Ruf der Medien höchst zwiespältig ist, glauben die Bürger doch gerne, was sich die Zyniker und Dünnbrettbohrer in den Redaktionsstuben und Großraumbüros landauf, landab ausdenken, um das Sommerloch und manches andere Vakuum zu füllen. Und so litt die innere Einheit der Deutschen natürlich darunter, dass das Porzellan, welches die Politiker sorgsam ins Schaufenster ihres Deutschlandladens stellten, immer wieder von Elefanten zertreten wurde, für die Grobmotoriker von "Bild", für die Empfindsamen von der "FAZ".

Ganz klar. Der Westen in Gestalt seiner Medien beansprucht die Deutungshoheit über die Vergangenheit der Ostdeutschen: Stasi, Doping, Diktatur, das Bad in der Unmündigkeit, die Unfähigkeit, das Leben selbst in die Hand zu nehmen, seines Glückes Schmied zu sein.

Einheit der Eisbären

Nun ist besonders ärgerlich, dass einerseits attestiert wird, Regierung und Volk in der DDR seien konträre Pole gewesen, auf der andere Seite aber alle staatlichen Sprachregelungen dem DDR-Bewohner untergejubelt werden, als habe er tatsächlich Jahresendflügelfigur statt Engel und Winkelement statt Fahne gesagt. Ganz im Gegenteil. Der Ostdeutsche war gegenüber Einflüsterungen von oben ungemein resistent. Daran sollte sich heutzutage mindestens jeder zweite im Lande ein Beispiel nehmen.

"Es ist keine Utopie mehr, dass die Deutschen in West und Ost dabei sind, ein gemeinsames, die unterschiedlichen Erfahrungen zusammensehendes und respektierendes Geschichtsbewusstsein zu entwickeln. Die Literatur hat an dieser Entwicklung einen entscheidenden Anteil", war in diesem Sommer im Feuilleton einer großen westdeutschen Tageszeitung zu lesen. Das sind so die Ideen, die jemandem, der selten rausgeht, am Schreibtisch zufallen: vielleicht kreativ, aber von der Realität nicht gedeckt.

Bei der inneren Einheit jener Menschen, die sich Deutsche nennen, haben wir es mit einem empfindsamen Wesen zu tun; sie ist wie die verbotene Tür im Märchen. Sobald wir über sie reden, zerfällt sie in Streit und Aversionen, sobald wir die Tür öffnen, sehen wir etwas, das wir nicht sehen wollten. Und dann? Dann reden wir ersatzweise von der inneren Einheit der Ostdeutschen. Die es nicht gibt. Oder der inneren Einheit der Westdeutschen. Die es auch nicht gibt. Und der inneren Einheit der Eisbären im Berliner Zoo. Von der wir wirklich nichts wissen können.

Der Autor lebt als Publizist in Berlin.

Es sei die bis in den Alltag hinein spürbare Arroganz der Westdeutschen, die eigentlichen Sieger zu sein, die sie noch heute so verbittere, sagen nicht nur die Verlierer der Einheit, bei denen eine Verbitterung noch verständlich wäre. So argumentieren auch die Gewinner. Sie messen das Erreichte an dem, was im Westen in mehr als vierzig Jahren wirtschaftlicher Blüte mit harter Arbeit erreicht worden ist, statt ihr neues Leben mit den Verhältnissen in den ehemaligen sozialistischen Bruderländern zu vergleichen. Die hatten größere Hürden zu überwinden auf dem Weg zur Marktwirtschaft, weil ihnen keine reiche Schwester bei der Sanierung der Trümmerlandschaft half, die der Sozialismus hinterlassen hatte. Aber die Brudervölker stimmen keine so lauten Jammerchöre an, obwohl ihr Lebensstandard weit unter dem der Ostdeutschen liegt.

Nationalgefühl Ost

Was außerdem zum allgemeinen Frust beiträgt, sind die geplatzten Illusionen von der Warenwunderwelt des Westens, die in der Einheit jedem erschwinglich sein würde. Entpolitisierung gleich Wahlverweigerung als Gegenwelle zur gerade erlebten politischen Bewegung war die Folge oder aber Abtauchen in rechtsradikale und rassistische Umtriebe. Weil sich viele Ossis nicht mehr daran erinnern wollen, welchen finsteren Zeiten sie entronnen sind, werden sie von Westdeutschen daran erinnert.

Es war ja nicht nur die Stasi, die ihr Leben bedrückte. Es war die SED, deren Nachfolgepartei "Die Linke" heute in allen neuen Bundesländern zu einer starken Kraft herangewachsen ist. Die Kleiderordnung hatte sich vor zwanzig Jahren über Nacht geändert, die bisher getragenen Kleider wurden gewendet, doch hineingewachsen sind viele Ostdeutsche bis heute nicht.

Fakt aber ist, dass der real existierende deutsche Sozialismus wirtschaftlich, politisch und moralisch versagt hat, dass es deshalb eines zweiten deutschen Staates nicht mehr bedurfte. "Rückwärts immer häufiger" passt dennoch vielen im Osten als Alternative zur deutschen Neuzeit inzwischen besser ins selbst gemalte Weltbild, in dem eine diffuse allgemeine Angst vor der Zukunft, verstärkt durch die weltweit im September 2008 ausgebrochene Finanzpanepidemie die vorherrschende Grundierung ist: Fast 70 Prozent der Ostdeutschen fürchten gesellschaftliche Veränderungen, fast 60 Prozent empfinden ihr Leben als ständigen Kampf und deshalb als Dauerstress, fast 50 Prozent fühlen sich vom Staat verlassen, der sich früher um sie gekümmert habe.

Ein Psychiater wie Hans-Joachim Maaz deutet die neue Volksbewegung, die von undifferenzierter Ostalgie angetrieben wird, ganz einfach so: "Wenn mir meine Welt immer wieder von Wessis erklärt wird, bin ich automatisch mehr als je zuvor ein überzeugter Ossi." Das Nationalgefühl Ost, das sich in trotzigen, aber nicht immer so komischen Äußerlichkeiten zeigt wie dem scheinbar spielerisch provokanten Outfit junger Paare in Ostdiscos - er in Uniform der Volksarmee, sie im Blauhemd der Freien Deutschen Jugend (FDJ) - gedeiht erst jetzt im geeinten Deutschland.

Was hat das alles zu tun mit dem Selbstbewusstsein vieler Ostdeutscher, das einfach nicht wachsen will, obwohl ihnen jedes Jahr bei den Feiern zur deutschen Einheit Anfang Oktober attestiert wird, besonders motiviert zu sein? Die gelobt werden von wechselnden Festrednern, eine gewaltige Lebensleistung allein dadurch erbracht zu haben, dass sie die Brüche in ihren Biografien während der vergangenen fast zwanzig Jahre tapfer überlebten? War schließlich revolutionär, welche gegensätzlichen Welten und Systeme aufeinander prallten - Zentralismus gegen Föderalismus, Willkür gegen Rechtsstaat, Zensur gegen Meinungsfreiheit, Einheitspartei gegen Parteienwettstreit, Planwirtschaft gegen soziale Marktwirtschaft, Maulkorb gegen Streitkultur, Diktatur gegen Demokratie?

Tiefe Kränkung

Genau die ist in eigener Regie von denen ertrotzt worden, die nie in Schulen, Universitäten und Betrieben Widerspruch gegen die Obrigkeit hatten lernen können, wie dies spätestens seit den sechziger im Westen selbstverständlich war. Darauf müssten sie doch - Moment mal, wir haben auch was zu sagen! - eigentlich stolz sein.

Dass die Helden der friedlichen Revolution bald vergessen waren, dass die Helden selbst bald vergaßen, wie couragiert sie waren, dass bald die Helden vielleicht sogar lieber vergessen wollten, was sie gewagt hatten, liegt sicher auch daran, dass außer an den üblichen Feiertagen ihrer Heldentaten nicht mehr gedacht wird. Fast zwanzig Jahre danach gibt es noch immer kein Denkmal, das an die wunderbare Revolution erinnert, an den Sturz der Diktatur.

Es wäre eines der Freude, des gemeinsam erlebten Glücks, des berechtigten Stolzes derer, die sie bewirkten. Die Revolution vom Herbst 1989 ist schließlich die einzige gelungene in der deutschen Geschichte. Zur historischen Wahrheit gehört auch, dass es die meisten Ostdeutschen nicht interessierte, ob sie eine neue Verfassung erhalten würden oder ob es genüge, der alten beizutreten. Andere Ziele hatten Vorrang, materielle vor allem.

Die Lage der Nation lässt sich eben nicht nur mit der wirtschaftlichen Situation erklären oder der wohlfeilen Metapher, die Einheit sei zwar gekauft, aber eben nicht gefühlt. Die Verletzungen der einstigen DDR-Bürger, die mutig ihren Staat zu Tode demonstriert haben, ohne dass sie je zuvor Protest hätten üben können, müssen noch andere Ursachen haben. Die tief sitzende Kränkung, sich nicht als gleichwertig behandelt zu sehen, ist entscheidender. Das tief sitzende Gefühl, minderwertig zu sein, zu den armen Verwandten zu gehören, die noch immer belehrt werden, was sie tun sollen.

Die Vergangenheit der Ostdeutschen kümmert Westdeutsche nämlich eher nicht. Viele setzen das verrottete politische und wirtschaftliche System der DDR mit dem Verhalten der Menschen gleich, die da lebten, so als hätten die in dem von oben bestimmten unten kein selbst bestimmtes Leben gekannt - Liebe, Geburten, Freunde, Familie. Als hätte es in Dunkeldeutschland keine Jahreszeiten gegeben, keine Sonnenaufgänge, keine Sternennächte. Einstige Bürger der DDR wiederum fühlen sich persönlich angegriffen, wenn über ihr Staatswesen pauschal geurteilt wird, als hätten sie alle in Käfigen unter Aufsicht der Schergen der Staatssicherheit hausen müssen.

Dass es aber inzwischen sogar in Oberammergau, Gelsenkirchen oder Fallingbostel keine Sensation mehr ist, wenn der Kellner oder die Verkäuferin sächselt, lässt vermuten, dass die Einheit dennoch beim Volk angekommen ist. Dass inzwischen westdeutsche Studenten in auch in Greifswald, Jena oder Leipzig studieren, ohne dabei heimwehkrank durch die Bahnhofhallen zu schleichen, dass die künftigen Eliten der Nation nur danach gehen werden, wo sie am besten ausgebildet werden, erlaubt die These: In den Köpfen der gebildeten Jugend gibt es keine Mauer mehr.

Zeichen von Normalität

So gesehen wäre es also ein beruhigendes Zeichen von Normalität, wenn die im Westen über die im Osten und die im Osten über die im Westen klagen. Schließlich gehört ja auch das gegenseitige Spötteln von Bayern und Preußen mit dem "Weißwurstäquator" als Trennlinie zu den Ritualen landmannschaftlichen Umgangs. Und Badener und Württemberger zum Beispiel waren sich über Jahrhunderte nicht freundlich gesinnt, und dennoch leben sie heute friedlich zusammen in einem Bundesland Baden-Württemberg.

Die Frage, wie es dem vereinten Deutschland geht, hat sich dann erledigt, wenn die Antwort mal lautet: Es geht so. Mal besser, mal schlechter. Oder, noch besser: Wenn niemand mehr fragt, wie lange es dauert bis zur Einheit.

Der Autor lebt als Publizist in Hamburg.