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»Wieder in der Wirklichkeit«

HALLDÓR GUDMUNDSSON Der isländische Literaturwissenschaftler über die Finanzkrise und ihre Auswirkungen auf seine Heimat-Insel am Rande Europas

26.10.2009
2023-08-30T11:24:10.7200Z
5 Min

Herr Gudmundsson, Island stand 2008 beim Human Developement Index der Vereinten Nationen auf Platz eins, die Isländer galten als glücklichstes Volk der Welt. Ist das heute immer noch so?

Sicherlich nicht. Dass wir uns angeblich so glücklich fühlten, hing auch damit zusammen, dass es in den vergangenen sieben Jahren einen unglaublichen Aufschwung gab - viele Investitionsfirmen wurden gegründet, die meisten erhielten Kredite, ohne viele Sicherheiten bieten zu müssen. Der Optimismus war sehr verbreitet.

Doch dann kam am 6. Oktober 2008 der Crash.

Ja, plötzlich brach für uns die Welt zusammen. Die Isländische Krone fiel zwar schon seit Monaten, doch keiner rechnete mit dem Kollaps des gesamten einheimischen Bankwesens. Wir alle werden uns wohl bis an unser Lebensende daran erinnern, wo wir an diesem Tag waren. Ich saß mit meiner Familie vor dem Fernseher und hörte die Ansprache des damaligen Premierministers Geir Haarde: Als er sie mit "Gott segne Island" beendete, war allen klar, dass die Regierung auch nicht weiter weiß.

Die ersten Monate schien das Land wie im Schockzustand, nur wenige gingen demonstrieren...

Sehen Sie, in Island gibt es keine richtige Protestkultur. In einer kleiner Gesellschaft wie der unseren ist es auch ein bisschen, als würde man gegen seine eigene Familie demonstrieren. Im Herbst 2008 gingen zwar einige in der Hauptstadt Reykjavík auf die Straße, doch die Menschen wusste nicht so recht wogegen sie kämpften. Auf ihren Plakaten stand lediglich "Großer Protest gegen die Zustände".

Mitte Januar wussten sie es dann. Bei der sogenannten Kochtopfrevolution standen Tausende Bürger vor dem Parlament und machten Lärm, indem sie auf Töpfe schlugen. Waren Sie dabei?

Ich war dort, habe aber nicht demonstriert. Als Autor ist man auch gleichzeitig Beobachter. Die Leute gingen nun auf die Straße, weil sich immer noch keiner der Politiker wirklich für das Debakel verantwortlich zeigte.

Hätten die Politiker die Krise verhindern können?

Kaum einer verstand das komplexe Finanzsystem - auch die Politiker nicht, wie die ehemalige Außenministerin Ingibjörg bestätigt. Sie gibt zu, dass es in der Politik an Kompetenz mangelte, und an klaren Regeln und Richtlinien für den Markt. Die isländischen Banker waren wahrscheinlich weder dümmer noch krimineller als andere, aber viel zu gierig und risikofreudig. Die volkswirtschaftliche Begrenzung des Landes machte es dem Staat unmöglich, die Banken aufzufangen. Ihr Volumen betrug das Zehnfache des Staatshaushaltes.

Bei der damaligen Außenministerin Ingibjörg Solrun Gisladóttir ging die Finanzkrise mit einer persönlichen Krise einher. Es wurde ein Gehirntumor diagnostiziert.

Trotz ihrer Krankheit versuchte Ingibjörg, die eine gute Freundin von mir ist, die Lage Islands in den Griff zu bekommen. In unserem Buch erzählt sie erstmals, wie sie die Zeit erlebte. Die einstige Hoffnungsträgerin der Linken fühlte sich von ihrem neoliberalen Regierungspartner hintergangen. Immer wieder wird die Schuldfrage gestellt. Tragen die Bürger auch einen Anteil an der Krise?

Ich finde das Thema Mitschuld ist überfrachtet. Klar, haben wir gerne konsumiert. Man wollte den neuesten Fernseher, einen dicken Jeep haben. Warum auch nicht? Wenn die Bank vielen Bürgern unaufgefordert Kredite anbietet, finde ich es ungerecht, dass man ihnen die Schuld gibt, diese angenommen zu haben. Nicht alle konsumierten maßlos und sind trotzdem in die Schuldenfalle getappt - viele können heute nicht mehr die Raten für ihr Haus abzahlen.

Wie hat sich Island seit dem 6. Oktober äußerlich verändert?

Menschen, die es kennen, würden auf den ersten Blick kaum Veränderungen sehen. Es ist aber still geworden - die großen Baustellen rund um Reykjavík liegen jetzt brach. Und auf der Flaniermeile Laugavegur sind viele Schaufenster leer.

Die Baubranche hat die Krise besonders hart getroffen. Auch der Architekt Jakob Lindal berichtet in Ihrem Buch darüber, wie es ihm ergeht. Waren Sie erstaunt über seine ehrlichen Worte?

Ja, alle zehn Betroffenen sind zu meiner Überraschung sehr offen. Normalerweise lassen wir Isländer uns nicht gerne in die Karten schauen. Jakob erzählt, dass internationale Kontaktleute in seiner Branche nichts mehr mit Island zu tun haben wollten: "Lieber in Indien als in Island", hieß es. Obwohl es wenig zu arbeiten gibt, fährt der Familienvater bis heute jeden Tag in eine leere Firma und simuliert Alltag.

Wie hat Sie persönlich die Krise getroffen?

Zum Glück nicht so hart. Aber in meiner Familie haben einige ihren Arbeitsplatz verloren. Viele Firmen sind insolvent, die einst größte Fluggesellschaft Icelandair gehört nun dem Staat. Ich habe mich nicht über die Krise gefreut, aber es ist gut, dass Geld nicht mehr der einzige Maßstab der Dinge ist. Bisher war es doch so: Die das Geld haben, haben das Sagen. Das spielt heute eine untergeordnete Rolle. Man ist wieder in der Wirklichkeit.

Und zu der gehört, dass Island nun der EU beitreten will. Im Juli wurde das Gesuch offiziell eingereicht. Was halten Sie davon?

Wir sind ohnehin schon Teil des europäischen Wirtschaftsraumes und müssen 95 Prozent der EU-Regelungen übernehmen, nur zu sagen haben wir nichts. Dann können wir auch gleich mitmachen. Man benötigt allerdings einen brauchbaren Vertrag, der auf unsere Fischerei Rücksicht nimmt.

Sie schreiben, dass Island in den Augen der Welt größer geworden ist. Was meinen Sie damit?

Früher mussten wir oft noch erklären, wo unser Land liegt und warum wir nicht in Iglus leben. Jetzt weiß jeder, wo Island ist. Unser Land ist widerwillig in den Mittelpunkt gerückt und wurde zu einer Art Versuchslabor für die Weltwirtschaftskrise. Wir sind als erste in der Krise - und hoffentlich auch als erste wieder heraus, sagen die Optimisten unter den Isländern.

Wenn wir schon alle Isländer sind - wie es ja im Titel ihres Buches heißt -, was können wir von Ihnen lernen?

Ich denke, dass man sich in jedem der im Buch Porträtierten auch wieder entdecken kann. Denn so verschieden ist das Leben in Deutschland nicht. Auch bei Ihnen gibt es die Sorge um Jobs, die Angst, Kredite nicht abbezahlen zu können. Auch bei Ihnen muss der Steuerzahler riesige Verpflichtungen übernehmen, um die Wirtschaft hochzuziehen. Es geht mir darum, dass man wachsam bleibt und sich nicht alles erzählen lässt.

Manche fordern eine Rückbesinnung auf die alten Werte. Teilen Sie diese Ansicht?

Ich glaube nicht an eine regressive Utopie. Dass wir plötzlich aufs Land ziehen, dort alle Kartoffeln anbauen und gemeinsam Fischen gehen. Die Fischerei ist lange industrialisiert und reglementiert. Man könnte noch nicht mal, selbst wenn man wollte. Außerdem: Wie sollten 200.000 Reykjavíker, das sind zwei Drittel unserer Bevölkerung, aufs Land flüchten. Trotzdem gibt es natürlich einen gesellschaftlichen Wandel.

Wie sieht dieser Wandel im Island des Jahres 2009 aus?

Wir haben gelernt, dass wir die Regierung wechseln und stürzen können. Mittlerweile sind mehr Leute politisch engagiert, wir verfolgen nun wachsamer was passiert. Auch gegen die neue Regierung, die im April gewählt wurde, demonstrierten die Isländer schon. Es ist ein Mentalitätswechsel, der nun das Label "2007" bekommen hat. Wenn jemand mit einem protzigen Range Rover herumfährt, sagt man nur noch abfällig "Ach, das ist voll 2007".

Das Interview führte Alva Gehrmann.

Halldór Gudmundsson, Dagur Gunnarsson:

Wir sind alle Isländer. Von Lust und Frust, in der Krise zu sein.

btb Verlag, München 2009; 192 S., 14,95 €