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Viele Wege führen nach Berlin I

17. WAHLPERIODE Der Bundestag hat 202 neue Abgeordnete mit ganz unterschiedlichen Biografien. Zwei Beispiele

02.11.2009
2023-08-30T11:24:11.7200Z
5 Min

Und plötzlich ist es wieder da - dieses eigentümliche Rauschen. Dieses Gewirr aus lauten und leisen, Männer- und Frauenstimmen, badischem Akzent und sächsischem Singsang, das im Plenarsaal des Bundestages an diesem grauen Oktobermorgen immer eindringlicher wird. Eine Atmosphäre, ein bisschen wie am ersten Schultag, kurz bevor der Lehrer nach den großen Ferien die Klasse betritt. Die Abgeordneten gehen durch die Reihen, begrüßen sich, mit Handschlag oder kurzer Umarmung und besetzen mit ihren Unterlagen einen der blauen Stühle des Plenarsaals. Einige wirken in dem Treiben etwas zurückhaltender, abwartender, denn wie in jeder Schulklasse gibt es auch in diesem Bundestag "die Neuen". 202 der 622 Abgeordneten erleben an diesem 27. Oktober ihre erste konstituierende Sitzung. Tom Koenigs, im dunklen Anzug mit dezenter blauer Krawatte, ist einer von ihnen. Er hat sich in den Reihen der grünen Fraktion einen Platz am Gang, vierte Reihe von hinten gesucht. Der grauhaarige Koenigs bleibt an seinem Platz, beobachtet die Szenerie, wechselt ein paar Worte mit seiner Nachbarin.

Dann unterbricht ein lauter Gong die Unterhaltung. Alterspräsident Heinz Riesenhuber (CDU) geht schnellen Schrittes zum Rednerpult: "Ich bin am Sonntag, dem 1. Dezember 1935, geboren. Wenn jemand von den Kollegen im Saal älter ist als ich, dann spreche er jetzt oder er schweige für immer." Tom Koenigs schweigt. Er ist mit 65 acht Jahre jünger als Riesenhuber. Doch auch wenn er noch keine neun Legislaturperioden wie Riesenhuber im Bundestag gesessen hat, ist sein ganzes Leben von Politik geprägt: Nach einer Banklehre und einem Studium der Betriebswirtschaft in Berlin engagierte er sich in der außerparlamentarischen Opposition (APO), machte eine Lehre als Feingeräteelektroniker und jobbte als Taxifahrer. 1983 wurde er Mitglied der Grünen, Assistent im hessischen Landtag und führte zwei Jahre lange das Büro des ersten Umweltministers der Grünen in Hessen, Joschka Fischer.

Rein äußerlich wirkt Koenigs wie der Gegenentwurf seines früheren Weggefährten: Während Fischer mit seiner zeitweise mächtigen Statur oft laut polternd auftrat und immer auch ein wenig von oben herab seine Meinung vertrat, ist Koenigs ein schmaler, drahtiger und im Auftreten zurückhaltender Typ. Anstatt sofort selbst zu reden, hört er lieber erst einmal zu, bevor er seinem Gegenüber ruhig, aber auch durchaus bestimmt, sagt, was er zu sagen hat.

Die neuen 68er

Wiedertreffen werden sich Fischer und Koenigs im Bundestag aber nicht. Der Außenminister sitzt seit 2006 nicht mehr im Parlament. Dafür hat jetzt Koenigs einen Platz bei den "68ern" in der grünen Fraktion: "Die 68er Generation ist in der Fraktion ja wieder in witziger Weise lebendig geworden", sagt Koenigs und lacht. Aber nicht, weil dort so viele Vertreter dieser Generation vertreten wären, sondern weil die Fraktion 68 Mitglieder zählt. Als Koenigs im März auf der Landesdelegiertenversammlung der Grünen gegen einen von ihnen, den Bundestagsabgeordneten Wolfgang Strengmann-Kuhn, Jahrgang 1964, einen aussichtsreichen Listenplatz gewann, wurde er gefragt, warum er in seinem Alter nochmals antreten wolle. "Meine Alternative war freundlicher Pensionär oder nochmals zu versuchen, Politik mitzugestalten", sagt er. Für ihn ist Alter kein entscheidendes politisches Kriterium: "Man kann in jedem Alter etwas beitragen. Das politische Alter fängt nicht mit 18 an und endet mit 65", sagt er.

Beitragen kann Koenigs zweifelsohne so viel nationale und internationale Erfahrung in den verschiedensten Ämtern wie kaum ein anderer: Der Stadt Frankfurt verordnete Koenigs als Kämmerer der hochverschuldeten Mainmetropole in den 1990er Jahren einen spürbaren Sparkurs und war einige Jahre auch Umweltdezernent der Stadt. 1998 kandidierte er schon einmal für den Bundestag, aber sein Listenplatz zog nicht. Stattdessen ging er zur UN. Denn sein Ruf als Macher reichte weit über Deutschland hinaus, und 1999 ernannte ihn der damalige UN-Generalsekretär Kofi Annan zum Leiter der zivilen Übergangsverwaltung im Kosovo: "Ich war im Kosovo zuständig für 60.000 Angestellte - den ganzen öffentlichen Dienst, in Guatemala für eine Mission mit 150 Personen und zuletzt direkt für 2.000 Mitarbeiter in Afghanistan", erzählt Koenigs.

Keine Statussymbole

In Zukunft wird er mit zwei Mitarbeitern in seinem Bundestagsbüro zusammenarbeiten. Noch hat Koenigs kein eigenes Büro, sondern teilt sich einen Raum mit einer Mitarbeiterin, in dem zwei alpacagraue Schreibtische und einige leere Regale stehen. Unter dem Fenster befindet sich ein wichtiges Arbeitsgerät: ein faltbares Klapprad Marke "Brompton", das ihm seine Frau geschenkt hat. "Das wiegt nur 16 Kilo und ich kann es problemlos in den Zug mitnehmen", sagt der bekennende Fahrradfan. Zur konstituierenden Sitzung ist Koenigs von seiner Wohnung im Prenzlauer Berg aber doch lieber mit der S-Bahn gefahren. Statussymbole sind für den Grünen, der aus einer alten Kölner Bankiersfamilie stammt, nicht erstrebenswert. Aber auch die Geschichte, dass er in den frühen 1970er Jahren sein gesamtes Erbe an den Vietkong und chilenische Widerstandsgruppen verschenkte, hat für ihn heute keine Bedeutung mehr.

Viel mehr Qualität hat für ihn das Arbeiten ohne Hierarchien: "Das kommt dem nahe, was ich als junger Mann immer wollte: Keinen Chef über mir und möglichst auch keine Leute unter mir." Großen Wert legt der dreifache Familienvater daher auch darauf, dass es sich bei seiner neuen Aufgabe um ein besonderes Mandat handelt: "Ich bin freier Abgeordneter, einer von 622". Und fügt hinzu: "Wir haben einen Fraktionsvorsitzenden. Der ist aber nicht mein Chef und kann mir nicht sagen, wie ich abstimmen muss." Im Mittelpunkt stünden die individuellen Fähigkeiten des einzelnen Abgeordneten: "Es kommt hier auf die Rede an, deshalb heißt es auch Parlament", betont er. Nach zehn Jahren im Ausland hat die Sprache für Koenigs eine besondere Bedeutung. "Wenn ich eine Heimat habe, dann ist es die Sprache", sagt er und spricht dabei so gewählt und langsam, als ob er dabei seine Worte nochmals genau abwägen würde. Lange hat er darüber nachgedacht, für welches Thema er sich in der neuen Legislaturperiode engagieren möchte: Umwelt, Finanzen, Außenpolitik - bei seinem Lebenslauf käme vieles davon in Frage. Das Thema Menschenrechte liegt ihm jedoch besonders am Herzen - nicht erst, seit er im Jahr 2005 als Nachfolger von Claudia Roth (Bündnis 90/Grüne) das Amt des Menschenrechtsbeauftragten der Bundesregierung übernahm. Hier möchte er sich besonders engagieren.

Inzwischen ist Koenigs aus dem Plenarsaal wieder in sein Büro zurückgekehrt. Auf dem Regal steht ein Bild, ein Geschenk, das einen stilisierten Berliner Dom und den Palast der Republik zeigt. Auf dem inzwischen abgerissenen Gebäude steht in übergroßen Lettern das Wort "Zweifel". Sieben Buchstaben, die auch ein Leitmotiv für seine Aufgaben im neuen Bundestag sein könnten. Denn, so sagt Koenigs: "Ich bin ungläubig, nicht nur im religiösen Sinne, sondern auch im Sinne des Zweifels. Ich glaube nicht den einfachen Wahrheiten."