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Kraft der ersten Worte

alterspräsident Das Amt hat eine lange Geschichte - die ist alles andere als langweilig

02.11.2009
2023-08-30T11:24:11.7200Z
4 Min

Es verbindet die Altkanzler Adenauer und Brandt, den Feldherrn Moltke und den Pazifisten Heym, den Marktwirtschaftler Erhard und die Kommunistin Zetkin: Sie alle haben als Alterspräsidenten deutsche Reichs- oder Bundestage eröffnet. Dass die Geschichte dieses Amtes nie langweilig war, lag auch daran, dass sein Inhaber, obgleich nicht gewählt, vom Platz des Parlamentspräsidenten aus eine Rede halten darf. Das ist heutzutage in den meisten deutschen und in vielen europäischen Parlamenten nicht nur Usus und als Tradition anerkannt. Es wäre, nüchtern betrachtet, auch kaum möglich, einen amtierenden Alterspräsidenten am Reden zu hindern. Zu verdanken sind dieser Rede-Freiheit zeitlose Appelle an das Verantwortungsbewusstsein der Parlamentarier, viel Versöhnliches nach hitzigen Wahlkämpfen und zahlreiche gelungene, sogar einige große Reden. Sie hat aber auch immer wieder Kritik hervorgerufen, zuletzt im Europäischen Parlament.

Parlamentarische Autonomie

Dort wurde nach der diesjährigen Europawahl eine Alterspräsidentschaft Jean-Marie Le Pens erwartet. Binnen weniger Wochen schafften die Straßburger Parlamentarier daraufhin das Amt ab und beerdigten so eine mehr als 50 Jahre alte Tradition ihres Hauses - aus Furcht vor der Rede eines Mannes. Ähnlich wurde 1992 in Kiel verfahren, hier wegen einer DVU-Abgeordneten. Dass es auch anders geht, zeigen Beispiele aus Baden-Württemberg und Sachsen-Anhalt: Deren Landtage hatten in den 1990er Jahren Alterspräsidenten von den "Republikanern" bezie- hungsweise von der DVU, behielten aber die bestehende Praxis unverändert bei. Geschadet hat es ihnen offensichtlich nicht.

Das Amt des Alterspräsidenten entstand während der Französischen Revolution als Verkörperung parlamentarischer Autonomie. Durch einen Alterspräsidenten kann sich ein neugewähltes Parlament konstituieren, ohne auf Hilfe von außen oder auf Amtsträger früherer Parlamente angewiesen zu sein. Im deutschen Frühkonstitutionalismus kam das Amt nach Südwestdeutschland, 1848 in die Frankfurter Nationalversammlung.

Vom Preußischen Landtag aus führte sein Weg via Geschäftsordnungstradition bis in den Deutschen Bundestag. Alle Reichstage seit 1867 kannten es, nur die Nationalsozialisten schafften es 1933 - am Tag des Ermächtigungsgesetzes - ab. Schon im Parlamentarischen Rat kehrte es zurück.

Wie zufällig ein Alterspräsident ins Amt gelangt, war nicht immer ganz klar. Im Kaiserreich gehörte es zur parlamentarischen Etikette, angesehene Alterspräsidenten im Amt zu "belassen", indem bei Neuwahlen keine älteren Kandidaten aufgestellt wurden. Gegen Ende der Weimarer Republik gab es dann ein regelrechtes Alterspräsidentenwettrüsten. Die aggressiven Ansprachen der Alterspräsidenten Clara Zetkin und Karl Litzmann von 1932 spiegeln diesen Geist wider. Besonders auffällig ist, dass die NSDAP Litzmann im selben Jahr gleich in zwei Parlamenten debütieren ließ - als 82-Jährigen.

Die Behauptung, Zetkin habe die Tradition der Alterspräsidentenrede begründet, ist falsch. Vor ihr haben schon andere Alterspräsidenten Ansprachen gehalten, etwa Wilhelm Pfannkuch und Wilhelm Bock. Auch ist nicht anzunehmen, dass der überzeugte Sozialdemokrat und langjährige Reichstagspräsident Paul Löbe 1949 ausgerechnet in ihre Fußstapfen treten wollte. Fest steht: Beginnend mit Löbe weist der Deutsche Bundestag als erstes nationales Parlament auf deutschem Boden eine ununterbrochene Tradition von Alterspräsidentenreden auf. Er und seine bisher zwölf Nachfolger haben alle ausführlich gesprochen, einzig Adenauer fiel aus der Reihe: Seine "Rede" umfasste 1965 ganze 68 Wörter. Dennoch brachte auch er die Kernbotschaft fast aller Alterspräsidentenreden seit 1848 zu Gehör: den Appell an die Parlamentarier, sich "der Gemeinsamkeit ihrer Verpflichtungen bewusst" zu sein.

Adenauers "Kurzrede" blieb nicht die einzige Anekdote. Eine andere ereignete sich 1969. Wie erst später bekannt wurde, "unterstütze" der älteste Abgeordnete William Borm (FDP) die neue Ostpolitik offenbar anders als erwartet. Ihm schauten in der Eröffnungssitzung nicht nur "die guten Geister der toten Alterspräsidenten" über die Schulter, sondern auch die DDR-Auslandspionage. Jedenfalls behauptete ihr langjähriger Leiter Markus Wolf später, Borms Rede persönlich redigiert zu haben.

Applaus-Boykott

1983 verpassten die neu in den Bundestag eingezogenen Grünen knapp einen parlamentarischen Traumstart. Kurz nach der Wahl stolperte ihr Alterspräsident Werner Vogel über seine Vergangenheit, zu der Mitgliedschaften in der SA und der NSDAP gehörten. Vogel verzichtete auf Amt und Mandat, Willy Brandt rückte nach. Der umstrittenste Amtsinhaber jedoch war Stefan Heym - zumindest am Tag seiner Rede. Kurz bevor er 1994 den 13. Deutschen Bundestag eröffnen sollte, kamen Stasi-Vorwürfe gegen ihn auf. Nach damaligen Zeitungsberichten gab es unterschiedlichste Ideen, wie darauf zu reagieren sei - bis hin zum Boykott seiner Rede. Als Heym sie dann hielt, war der Plenarsaal zwar voll, die Unionsfraktion verweigerte ihm jedoch geschlossen den Applaus. Als einzige Ausnahme ist die damalige Bundestagspräsidentin Rita Süssmuth überliefert. Die Vorwürfe gegen Heym erhärteten sich nicht.

Mit seinen Nachfolgern als Alterspräsidenten ist es um diese "Institution des deutschen Parlamentsrechts" ruhiger geworden, zumindest im Bundestag.