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Das Chamäleon

CArl Schmitt Reinhard Mehrings Biographie über den »Kronjuristen der Nazis« versagt sich jeden aktuellen Bezug

30.11.2009
2023-08-30T11:24:15.7200Z
5 Min

Carl Schmitt gehört neben Martin Heidegger und Max Weber zu den weltweit am meisten gelesenen deutschen Denkern des 20. Jahrhunderts", heißt es auf der Buchrückseite der neuen Carl-Schmitt-Biographie von Reinhard Mehring - eine Behauptung, der man in dieser oder ähnlicher Form immer wieder begegnet und bei der man sich fragt, worauf sie sich eigentlich stützt. Hat denn die Zahl der Carl-Schmitt-Leser auf der Welt irgendjemand empirisch ermittelt? Oder steckt hinter der Behauptung vom weltweit so viel gelesenen Schmitt nicht vielleicht eher die Wunschvorstellung interessierter Kreise, die ihren Meister im Ranking noch vor anderen Denkern wie Jaspers, Horkheimer, Adorno oder Habermas nach oben bringen wollen?

Unbestritten ist allerdings, dass Carl Schmitt heute nicht mehr - wie lange Zeit in der Bonner Republik - aufgrund seiner nationalsozialistischen Vergangenheit öffentlich totgeschwiegen wird. Im Gegenteil, sein Werk wird heute national und international breit rezipiert und diskutiert. Mehr noch: Carl Schmitt gehört inzwischen zu den "Klassikern des politischen Denkens" -jedenfalls nach der vielbeachteten Meinung des Berliner Politikwissenschaftlers Herfried Münkler. Manche "Schmittianer" sehen ihren Meister gar schon auf einer Ebene mit Hobbes und Machiavelli, Carl Schmitts geistigen Ahnherren. Ein wahrlich atemberaubender Aufstieg, wenn man bedenkt, dass Schmitts Werk im bundesdeutschen Politikwissenschaftsbetrieb der 1970er und 1980er Jahre ein beinahe kryptisches Dasein führte.

Antipode zur Demokratie

Kurt Sontheimer, der wohl renommierteste deutsche Politologe damals, brachte die intellektuelle Mehrheitsmeinung zu Carl Schmitt auf den Punkt: "Wem die liberale, das heißt die freiheitliche Demokratie am Herzen liegt, der braucht Carl Schmitt nicht", sagte er 1985 anlässlich des Todes des berühmt-berüchtigten Staatsrechtlers der Weimarer und NS-Zeit. Für Sontheimer, wie für die meisten deutschen Intellektuellen damals, war und blieb Carl Schmitt ein geistiger Antipode der liberalen parlamentarischen Demokratie, der seine Komplizenschaft mit dem verbrecherischen System des Dritten Reichs nie öffentlich bekannt oder gar bereut hat. Mit einem solchen Mann wollte man nichts zu tun haben, auch nicht mit seinem wissenschaftlichen Werk.

Diese pauschale Ablehnung Schmitts ist nun seit geraumer Zeit einer differenzierteren Einstellung gewichen. Man verwirft mit dem Antisemiten und "Kronjuristen der Nazis" Carl Schmitt nicht auch schon sein ganzes wissenschaftlich-publizistisches Werk, das zu Problemen des Parlamentarismus, zur Bestimmung von Legalität und Legitimität und vor allem zum Begriff des Politischen Beachtenswertes, wenngleich ideologisch Kontaminiertes beiträgt.

Reinhard Mehrings Absicht in seinem Carl-Schmitt-Buch war es nun aber nicht, der Frage nach einer möglichen Aktualität von Schmitts Denken und Werk nachzugehen -und sei es im Rahmen einer Biographie auch nur ansatzweise. Zum Beispiel, ob Schmitts "Begriff des Politischen" oder seine "Theorie des Partisanen" für die Analyse heutiger politischer Konflikte etwas leisten können. Diese Frageperspektive wird von Mehring vollständig ausgeblendet - und das verwundert schon bei einem Politikwissenschaftler. Mehring schreibt dazu im Vorwort seines Buchs: "Diese Biographie historisiert Schmitts Leben und Werk. Sie ordnet es nicht in die Reihe der ‚Klassiker' des politischen Denkens" ein und "diskutiert auch seine oft warnend beschworene Aktualität nicht". Die Biographie "spiegelt deutsche Geschichte des 20. Jahrhunderts im Leben und Werk eines Analytikers und Akteurs; sie beobachtet ein problematisches Leben mitunter geradezu protokollarisch in seinem ereignisgeschichtlichen Ablauf und reflexiven Versuch normativer Orientierung und Selbststabilisierung".

Mit dieser programmatischen Selbstbeschränkung auf das Faktisch-Ereignisgeschichtliche geht Reinhard Mehring an Carl Schmitt nicht wie ein Politikwissenschaftler heran, sondern eher wie ein Historiker - was selbstverständlich legitim ist. Freilich fehlt der Biographie damit die politologisch interpretierende Linie. Andererseits blieb Mehring mit seinem weitgehenden Verzicht auf Werkdeutungen Platz für die Ausbreitung einer Lebenschronik, die nahezu lückenlos das fast hundertjährige Leben Carl Schmitts zwischen 1888 und 1985 dokumentiert. Eben das war wohl auch die Absicht des Autors, der seit mehr als 20 Jahren über Schmitt forscht und dessen jetzt vorgelegte biographische Arbeit über den "Aufstieg und Fall" Schmitts eine Art Summe seiner langjährigen Forschungen darstellt. Das mit einem über 150-seitigen Anmerkungsapparat versehene Buch "bemüht sich um große Faktizität", schreibt Mehring. Dafür wurden neben bislang schon publizierten auch neue Quellen herangezogen, insbesondere Schmitts Tagebücher der Weimarer Zeit sowie der Düsseldorfer Nachlass. So ist ein immens materialreiches 750-Seiten-Werk entstanden, das auf Jahre hinaus als unverzichtbare Basislektüre jeglicher Carl-Schmitt-Studien dienen wird.

Ehrgeizig und begabt

Mehring teilt in seinem Buch das Leben Carl Schmitts in vier Abschnitte ein, beginnend mit dem "Aufstieg im Wilhelminismus", als der begabte und ehrgeizige Schmitt sich als Jurastudent, Referendar und Dozent in Berlin, München und Straßburg erste Meriten verdiente; dann das Leben in der Weimarer Republik "jenseits der Bürgerlichkeit", gefolgt von Carl Schmitts "nationalsozialistischem Engagement" 1933 und der wenig später folgenden "Enttäuschung" 1936, als der NS-Karrierist Schmitt nach steilem Aufstieg aufgrund von parteiinternen Intrigen jäh in der politischen Hierarchie abstürzte, seine privilegierte Stellung als Berliner Rechtsprofessor aber dennoch nicht verlor. Mehring hat diesem Teil seines Buchs - mit Blick auf das Hauptwerk von Schmitts Referenzdenker Thomas Hobbes - den Titel "Im Bauch des Levia-than" gegeben.

Den Abschluss der Biographie bildet der Teil "Langsamer Rückzug nach 1945", wo man Carl Schmitt nach kurzer und schmerzloser alliierter Haft als Pensionist in seinem sauerländischen Geburtsort Plettenberg findet, seinem "Asyl", wie er es nennt, umgeben von Schülern, Freunden und Unterstützern wie dem Dichter Ernst Jünger und dem späteren Bundesverfassungsrichter Ernst-Wolfgang Böckenförde. Zwar ist der vormalige Nazi und Antisemit Schmitt aus dem öffentlichen Diskurs der neuen Bundesrepublik weitgehend ausgeschlossen, aber bis zu seinem Tod 1985 sammeln sich zunehmend Bewunderer um ihn, die "sein Werk für ein zweites Leben in liberaler Rezeption retteten", wie Mehring sich ausdrückt.

Disparateste Facetten

Der Autor zeigt uns in einem riesigen biographischen Bogen Carl Schmitt wie durch ein Kaleidoskop in den disparatesten Facetten; eine kaum fassbare, chamäleonartige Persönlichkeit von erzkatholischer, antijüdischer Prägung, egomanisch und sexbesessen, hoch gebildet, ein brillanter intellektueller Kopf - aber als politischer Akteur und in seinem Antisemitismus fanatisch-borniert, später mit einem Hang zu esoterischer Spinnerei und ästhetischer Selbstinszenierung. Carl Schmitt spiegelt sich in literarischen Figuren wie Don Quijote und Hamlet, Othello und Don Juan. Er gefällt sich darin, "viele Interpretamente und ‚Mythen' zum Verständnis seines ereignisreichen und seltsamen Lebens" anzubieten, schreibt Mehring. So bezeichnete sich der ehemalige Staatsrat und Staatsrechtsprofessor Schmitt, um seine Rolle als geistiger Mittäter im NS-Regime zu bagatellisieren, gern ironisierend als "weißer Rabe, der auf keiner schwarzen Liste fehlt" - und spielte damit den Unschuldigen, der in der bundesrepublikanischen Welt zu Unrecht schlecht beleumundet wird.

Das wissenschaftlich-publizistische Werk Carl Schmitts behandelt Mehring - wie es in einer Biographie auch anders kaum möglich ist - eher nebenher. Er kommt zwar auf alle wichtigen Schriften und Themen Schmitts zu sprechen; wegen der "historisierenden" Absicht seiner Biographie versagt es sich Mehring aber sogar bei Schmitts berühmter Schrift zum "Begriff des Politischen", auf ihre auch heute aktuelle, ja sogar "zeitlose" Relevanz für das Verständnis von Politik hinzudeuten. Das ist fast zu viel der Zurückhaltung. Das schmale Buch mit der politischen Freund-Feind-Thematik hat Carl Schmitt als seine "beste Leistung" bezeichnet. Man kann es getrost zu den Klassikern der modernen politischen Literatur rechnen.

Reinhard Mehring:

Carl Schmitt. Aufstieg und Fall. Eine Biographie.

Verlag C.H. Beck, München 2009; 750 S., 29,90 €