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VERMITTLUNGSAUSSCHUSS Bundesverfassungsgericht zeigt Gremium Grenzen auf und stärkt erneut den Bundestag

01.02.2010
2023-08-30T11:25:46.7200Z
6 Min

Bekannt ist: Der Vermittlungsausschuss der 17. Wahlperiode hat sich am 27. Januar 2010 konstituiert. Neue Vorsitzende sind der Bundestagsabgeordnete Thomas Strobl (CDU) und der Bürgermeister der Hansestadt Bremen, Jens Böhrnsen (SPD). Ob der jüngste Beschluss des Bundesverfassungsgerichts zu den Kompetenzen des Gremiums auch ein Thema der konstituierenden Sitzung war, lässt sich der Geschäftsstelle des Vermittlungsausschusses nicht entlocken. Der Ausschuss tagt nicht öffentlich, seine Beratungen sind vertraulich.

Es ist aber davon auszugehen, dass die am 20. Januar 2010 veröffentlichte Entscheidung (2 BvR 758/07) nicht nur den Vermittlungsausschuss weiter beschäftigen wird. Dabei haben die Richterinnen und Richter zunächst lediglich bestätigt, was seit Jahren gefestigte Rechtsprechung ist: Der Vermittlungsausschuss hat kein Gesetzesinitiativrecht. Er darf im Vermittlungsverfahren kein gänzlich neues Gesetz vorschlagen, sondern lediglich vermitteln zwischen "zuvor parlamentarisch beratenen Regelungsalternativen". Hauptakteur im Gesetzgebungsverfahren ist der Bundestag.

So weit, so bekannt. Anders als in früheren Fällen hat das Gericht diesmal aber entschieden, dass der Vermittlungsausschuss die ihm verfassungsrechtlich gesetzten Grenzen überschritten hat und - was selten vorkommt - dass dieser Verstoß gegen formelle Vorgaben des Grundgesetzes über das Gesetzgebungsverfahren zur Verfassungswidrigkeit führt: Der Mangel sei "evident". Er berührt deshalb die Gültigkeit der Norm, die es zu überprüfen galt. Die Vorschrift aus dem Personenbeförderungsgesetz bleibt nur vorläufig, bis zum 30. Juni 2011, anwendbar.

Kürzung von Zuschüssen

In dem Beschluss geht es um eine 2004 in Kraft getretene Kürzung staatlicher Zuschüsse für ermäßigte Auszubildenden-Tickets im öffentlichen Nahverkehr durch das Haushaltsbegleitgesetz 2004. Die maßgebliche Regelung geht zurück auf das "Koch/Steinbrück-Papier", ein unter Leitung von Hessens Ministerpräsident Roland Koch (CDU) und seinem damaligen nordrhein-westfälischen Amtskollegen Peer Steinbrück (SPD) erarbeitetes Papier zum Subventionsabbau. Die Vorschläge seien zwar im Jahr 2003 in den Bundestagsberatungen über das Haushaltsbegleitgesetz an verschiedenen Stellen erwähnt und in der Presse diskutiert worden. Die vom Grundgesetz geforderte parlamentarische Beratung innerhalb des Gesetzgebungsverfahrens habe jedoch nicht stattgefunden, so die Einschätzung des Gerichts. Der gesamte Verfahrensgang sei vielmehr erkennbar darauf angelegt gewesen, den als notwendig erkannten politischen Kompromiss erst im Vermittlungsausschuss herbeizuführen, "unter Vermeidung der Öffentlichkeit und der parlamentarischen Debatte und einer hinreichenden Information der Mitglieder des Deutschen Bundestages". Das Fazit der Karlsruher Richterinnen und Richter: Die Abgeordneten konnten "vielleicht" schon vor der dritten Lesung und Schlussabstimmung wissen, was der Vermittlungsausschuss letztendlich vorschlug. "Vielleicht" reicht aber nicht.

Für den Berliner Verfassungsrechtler Christian Pestalozza ist das der Grund für die besondere Bedeutung der jüngsten Entscheidung: Das Gericht gehe über die Frage der Kompetenzen des Vermittlungsausschusses deutlich hinaus, sagt der Professor für Öffentliches Recht im Gespräch mit dieser Zeitung: "In den bisherigen Entscheidungen ging es spezifisch um den Vermittlungsausschuss. In diesem Beschluss geht es allgemein um Transparenz und Öffentlichkeit." Gegenstand der Entscheidung sei zwar die Haushaltsgesetzgebung, bei der Karlsruhe traditionell auch an das Verfahren strengere Maßstäbe anlege; die Erwägungen seien aber nicht darauf beschränkt. Zum ersten Mal, so die Einschätzung Pestalozzas, hat das Gericht herausgearbeitet, wie Gesetzesalternativen in den Ausschüssen und im Plenum des Bundestags diskutiert werden müssen, um dem Prinzip der "Parlamentsöffentlichkeit" gerecht zu werden: formalisiert und konkret, als Stellungnahme zu einem Gesetzentwurf, als Teil der Beschlussempfehlung und des Berichts des federführenden Ausschusses oder als konkreter Debattenpunkt in einer Lesung.

Der Verfassungsgrundsatz der "Parlamentsöffentlichkeit" basiert auf dem Demokratieprinzip und ist ein zentraler Grundsatz. In der Verfassung verbirgt er sich hinter einem schlichten Satz in Artikel 42 des Grundgesetzes: "Der Bundestag verhandelt öffentlich." Die Wählerinnen und Wähler sollen die Möglichkeit haben, sich über Kompromissbildungen im Bundestag zu informieren und sich ein Urteil über die Arbeit ihrer Volksvertreter zu bilden. "Verhandeln" umfasst die komplette Tätigkeit des Parlaments, vom Beginn bis zum Ende der Plenarsitzung. "Öffentlich" meint, dass jedermann freien und gleichen Zugang zu den Sitzungen hat oder sie beispielsweise im Fernsehen verfolgen kann. Werden Debatten über Gesetze jedoch in Gremien verlagert, die - wie der Vermittlungsausschuss - nicht öffentlich tagen, scheidet diese Möglichkeit aus. Und damit entfällt die vom Gericht betonte "Kontrollfunktion" durch die Bürgerinnen und Bürger durch die öffentliche Beobachtung des Gesetzgebungsverfahrens.

Wichtige Informationen

Den Grundsatz der Parlamentsöffentlichkeit habe das Gericht aus einem weiteren Grund als besonders wichtig hervorgehoben, sagt Christian Pestalozza. Die Parlamentsöffentlichkeit sichert auch die in Artikel 38 verfassungsrechtlich verankerten Rechte der Abgeordneten: Die Mitglieder des Bundestags haben das Recht, über ein Gesetz abzustimmen - und das Recht, das Gesetz zuvor ausführlich zu beraten, darüber zu streiten und Alternativen zu erörtern. Das setzt voraus, dass sie ausreichend informiert sind. "Jeder Abgeordnete soll wissen können, was er tut", sagt Pestalozza, auch wenn dieser Anspruch bei manchmal mehr als 600 beschlossenen Gesetzen pro Wahlperiode eine "idealistische Grundannahme" beinhalte. Entscheidend sei die Möglichkeit, informiert zu sein und so Verantwortung für das Abstimmungsverhalten übernehmen zu können - gegenüber den Wählerinnen und Wähler.

Nicht genug beraten

Genau diese Möglichkeit hat das Gericht im konkreten Fall nicht gesehen. Die Tragweite des "Koch/Steinbrück-Papiers" sei nicht erkennbar gewesen, zu pauschal die darin enthaltenen Vorschläge. Daran habe auch die Befassung in den Ausschüssen und im Plenum nichts geändert: Das Papier war zwar Gegenstand der Beratungen; Beschlussempfehlung und Bericht des federführenden Haushaltsausschusses berücksichtigte das Papier indes nicht. In der Plenardebatte wurde es erwähnt, ohne einzelne Punkte detailliert zu besprechen. Allein der Umstand, dass das "Koch/Steinbrück-Papier" etwa durch Presseberichte oder das Netz bekannt war, reicht dem Gericht ebenfalls nicht aus. Der Vorschlag des Vermittlungsausschusses war demzufolge keine "zuvor parlamentarisch beratene Regelungsalternative". Die Abgeordneten konnten sich mit den Vorschlägen des Papiers im Einzelnen nicht "verantwortlich befassen".

Das Gericht sieht das Papier auch nicht als Bundesratsinitiative an - dafür hätte es eines Beschlusses des Bundesrats und der formalen Einbringung bedurft, nicht der bloßen Erläuterung durch Landesminister in den Ausschüssen des Bundestags. Und auch die Anrufung des Vermittlungsausschusses durch den Bundesrat mit dem Verlangen, das Papier einzubeziehen, sei nicht ausreichend: "Die Anrufung käme dann einer Gesetzesinitiative gleich." Genau diese habe es aber erkennbar nicht gegeben.

Andere Gesetze

Ob auch andere Gesetze, die auf dem Haushaltsbegleitgesetz beruhen, verfassungsrechtlich bedenklich sind, lässt sich nicht feststellen - jedenfalls kommt eine automatische Nichtigkeit oder Unwirksamkeit nicht in Betracht. Dazu bedarf es immer eines Spruchs durch das Bundesverfassungsgericht, etwa bei der Prüfung anderer Verfassungsbeschwerden. Ob Verfahren anhängig sind, in denen auch die beschriebenen Mängel im Gesetzgebungsverfahren gerügt werden, darüber führt das Gericht keine gesonderte Statistik. Diese Frage wird immer erst im Laufe des Verfahrens als Prüfungspunkt relevant, so die Pressesprecherin des Gerichts.

Eine weitere Formalisierung des Gesetzgebungsverfahrens hält Pestalozza für nicht notwendig. Natürlich könne man längere Fristen für die Gesetzesberatungen festschreiben oder eine Pflicht zu drei Lesungen. Aber auch das garantiere nicht, dass ein Gesetz ausreichend beraten werde. Entscheidend sei, dass sich die Abgeordneten sachkundig machten und die Möglichkeit dazu haben - hier schließt sich für Pestalozza der Kreis zur Entscheidung zum Vermittlungsausschuss.

Das Bundesverfassungsgericht hat in den zurückliegenden Monaten noch weitere Entscheidungen getroffen, die die Rechte des Bundestags hervorgehoben haben: Die Begleitgesetze zum Vertrag von Lissabon mussten im Sommer 2009 überarbeitet werden, weil das Gericht die Beteiligung des Parlaments als nicht ausreichend ansah (2 BvE 2/08). Mit Beschluss vom 17. Juni 2009 hat das Gericht die Rechte von Untersuchungsausschüssen bei der Herausgabe von Akten präzisiert (2 BvE 3/07). Und kurz darauf folgte eine Entscheidung zur Reichweite des Frage- und Informationsrechts der Abgeordneten (2 BvE 5/06). Die Rechte des Parlaments sind in Karlsruhe in guten Händen.