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»Beutejäger des globalisierten Kapitals«

Weltwirtschaftsordnung Jean Zieglers eindringliches Plädoyer für eine neue Politik der westlichen Welt

01.02.2010
2023-08-30T11:25:46.7200Z
4 Min

Mehr als zwei Milliarden Menschen müssen mit weniger als einem US-Dollar am Tag auskommen, sind unterernährt, leiden unter mangelhafter Versorgung mit Medikamenten und Trinkwasser. So lautet die ernüchternde Einschätzung Jean Zieglers. In einem Jahr sterben mehr Menschen, als in den sechs Jahren während des Zweiten Weltkriegs durch Kriegshandlungen umkamen, rechnet er in seinem Buch "Der Hass auf den Westen" vor.

Jean Ziegler war bis 1999 Nationalrat im Schweizer Parlament und ist zurzeit Mitglied des Beratenden Ausschusses im UN-Menschenrechtsrat. In seiner langjährigen Funktion als Sonderberichterstatter der Vereinten Nationen für das Recht auf Nahrung hat er unzählige Reisen vor allem in die Entwicklungsländer unternommen und wurde dort mit dem Elend konfrontiert, in dem sich die Mehrheit der Menschheit gegenwärtig befindet.

Verwüstung der Infrastruktur

Die Ursache für das globale Elend liegt nach Ziegler hauptsächlich in der rücksichtslosen Bereicherung der westlichen Industriestaaten begründet. Waren es in der Vergangenheit Sklaverei, Kolonialismus und die skrupellose Plünderung der Ressourcen in den Entwicklungsländern, so sei es derzeit der unfaire Welthandel in Verbindung mit den Machenschaften des Finanzkapitals. Die "Beutejäger des globalisierten Kapitals", wie er die Vertreter der internationalen Konzerne nennt, schreckten nicht davor zurück, in sogenannten "Sonderproduktionszonen" Sklavenarbeit zu organisieren, Hungerlöhne zu zahlen, die Natur schamlos zu verwüsten, die Infrastruktur der Entwicklungsländer zu zerstören und damit auf Dauer eine "kannibalische Weltordnung" zu errichten. Für Ziegler ist die Politik des Neo- liberalismus deshalb das "mörderischste Unterdrückungssystem der vergangenen fünf Jahrhunderte", das die Völker der Dritten Welt brutaler ausbeutet und erniedrigt als es jemals zuvor geschah. "Die Sklavenhalter sitzen heute in den Börsen, bestimmen die Rohstoffpreise durch Spekulation und sind - wenn auch der Allgemeinheit nicht sichtbar - verantwortlich für den Hunger hunderttausender Menschen", klagt der streitbare Autor an. Zahlen belegen das eindeutig: Die 500 mächtigsten Kapitalgesellschaften verfügen heute über einen größeren Anteil am Weltsozialprodukt als die 133 armen Länder zusammen.

Ziegler hat diese Ungerechtigkeit bereits in seinen Büchern "Die neuen Herrscher der Welt und ihre globalen Widersacher" und "Das Imperium der Schande" angeprangert. Inzwischen aber, und das ist das zentrale Anliegen seines neuen Buchs, zeichnet sich ab, dass die unter Ausbeutung und Armut leidenden Völker nicht mehr länger gewillt sind, sich mit ihrem Schicksal abzufinden, sondern sie beginnen sich vehement zu wehren. Nicht überall gelinge das so geordnet und erfolgreich wie in Bolivien, wo vor drei Jahren mit Evo Morales erstmals ein Indianer demokratisch gewählter Präsident eines südamerikanischen Landes wurde. Seitdem werde versucht, bolivianische Bergwerke, Öl- und Gasfelder sowie Plantagen in Staatseigentum zu überführen. Die erzielten Gewinne flössen nicht mehr ausschließlich in die Kassen westlicher Konzerne, sondern würden zum großen Teil im Land verbleiben und könnten im Kampf gegen das bestehende soziale Elend eingesetzt werden. Ziegler macht keinen Hehl daraus, wo seine Sympathien liegen und warnt die westlichen Länder davor, sich diesen Bewegungen in den Weg zu stellen.

Pathologische Züge

Der Hass auf den Westen sei zwar schon seit Jahrhunderten vorhanden, aber noch zu keiner Zeit so akut wie gegenwärtig. Ziegler registriert mit großer Besorgnis, dass der Hass auf den Westen inzwischen teilweise pathologische Züge angenommen hat und sich vielfach in blindwütigen Terrorakten niederschlägt. Irregeleitete Bewegungen wie die Salafisten im Magreb, die Dschihadisten im Nahen Osten oder die Al-Qaida würden, wenn sie die Möglichkeit hätten, keine Hemmungen haben, sich Kernwaffen zu beschaffen und diese gezielt einzusetzen. Angesichts der 20.000 atomaren Sprengköpfe, die teilweise unkontrolliert auf unserem Planeten lagern, könne so der Hass auf den Westen zum "universellen Tod" der Menschheit führen.

Ist Jean Ziegler ein Panikmacher, ein Schwarzseher, ein Defätist? Sicherlich fehlt es seinem Buch nicht an einem ordentlichen Schuss Polemik. Aber er kennt die Situation rund um den Globus gut und seine Analysen sind überzeugend. Er schildert die maßlose, ständig wachsende Ungerechtigkeit - in den reichen Ländern Überfluss, Verschwendung und grenzenloser Luxus, in den armen Ländern Hunger, Krankheit und Verzweiflung - um wachzurütteln. Er will die Mächtigen dieser Welt, Politiker und Wirtschaftsbosse, veranlassen, endlich eine neue, eine faire Weltordnung zu schaffen, in der nicht mehr ein Teil der Menschheit mit Fettleibigkeit zu kämpfen hat, während der andere Teil verhungert - in den Entwicklungsländern täglich bis zu 100.000 Menschen. Der Westen, der sich gern als "Träger universeller Werte" geriere, stehe jetzt vor der Entscheidung, sich entweder von der strukturellen Gewalt ihrer Wirtschaftspolitik zu verabschieden oder die Welt weiter in den Wahnsinn eines wirtschaftlichen Weltkriegs taumeln zu lassen, da sich die große Mehrheit der südlichen Völker "eine Vergewaltigung ihrer Identität, eine Verleugnung ihrer Besonderheit und ihrer Erinnerung" nicht mehr bieten lasse.

Jean Ziegler:

Der Hass auf den Westen.

C. Bertelsmann, München 2009; 288 S., 19,95 €