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Zwei Degenlängen Abstand

GROSSBRITANNIEN Im britischen Unterhaus wird Tradition groß geschrieben

15.02.2010
2023-08-30T11:25:47.7200Z
3 Min

Da kommt der "Speaker" um die Ecke. Jovial grüsst der Präsident des britischen Unterhauses nach allen Seiten, noch bevor der begleitende Polizeibeamte "Die Hüte ab, ihr Fremden!" gerufen hat - ein kurioser Befehl schon deshalb, weil heutzutage kaum noch jemand Hut trägt. Aber Tradition muss sein in den heiligen Hallen des Palastes von Westminster, der "Mutter aller Parlamente", wie stolze Engländer zu sagen pflegen.

Rasch geht Parlamentspräsident John Bercow an der Marmorstatue Winston Churchills vorbei. Deren Füsse sind glattgerieben von den schweißnassen Händen der Parlamentarier auf dem Weg in den Plenarsaal - öffentliches Reden ist angstbeladen, auch im Unterhaus, und dort vielleicht sogar besonders: Schließlich gilt in London nach wie vor die Regel, dass die Abgeordneten soweit wie möglich frei sprechen und nicht ablesen sollen. Ein Rednerpult gibt es nicht, Regierung und Opposition sitzen sich auf grünen Bänken, wie im Theater treppenartig ansteigend, gegenüber. Vor den beiden ersten Reihen sind rote Linien aufgemalt, der Abstand dazwischen bemisst sich als "zwei Degenlängen" - Erinnerung an die Zeit, als der öffentliche Disput die Waffengewalt als Mittel der Auseinandersetzung abgelöst hatte.

Nur der Redner der Regierung und der Vertreter der Opposition haben so etwas wie eine Ablage für ihr Redemanuskript: einen Holzkasten auf dem Tisch für die Stenographen. Daran möglichst elegant zu lehnen, ist oberstes Gebot.

Die Hinterbänkler hingegen sollen nicht viel mehr als Notizen zu Hilfe nehmen. Unbarmherzig schreien Altgediente "reading, reading!" ("Der liest!"), wenn Novizen gegen diese Tradition verstossen.

"Ein ziemlich ungeeigneter Ort, um eine Rede zu halten", seufzt der Labour-Abgeordnete Nick Palmer, der den mittelenglischen Wahlkreis Broxtowe im Unterhaus vertritt. "Ich persönlich wäre heilfroh, wenn wir ein Rednerpult hätten."

Auch nach 13 Jahren Parlamentszugehörigkeit macht sich der hochgewachsene Palmer deshalb noch Sorgen: "Wer so groß ist wie ich, hat die Knie etwa auf der Höhe der vorderen Bank. Man hat immer das Gefühl, man verliert die Balance und fällt Hals über Kopf hinunter." Inhaltlich schätzt Palmer den raschen Austausch zwischen Regierungsvertretern und Hinterbänklern: Wer ein Argument vorbringen möchte, steht auf und appelliert damit an den Redner, die Unterbrechung zuzulassen. "Das wird normalerweise auch akzeptiert, der Ton ist sachlich und höflich."

Aufgeladene Atmosphäre

Von den Debatten bekommt die Öffentlichkeit wenig mit, die Einschaltquoten des Parlamentskanals sind gering. Das öffentliche Bild vom Unterhaus ist geprägt vom Ritual der 30 Minuten langen "Fragen an den Premierminister". Jeden Mittwoch versuchen Oppositionspolitiker mittels geschickter Fragen dem Regierungschef ein Bein zu stellen. Weil es für 646 Abgeordnete nur 427 Sitzplätze gibt, müssen viele Parlamentarier stehen, was die Atmosphäre zusätzlich auflädt. "Wenn das Unterhaus voll ist, kann einen das sehr einschüchtern", erzählt Denis MacShane (Labour-Partei), der drei Jahre lang Europa-Minister war. "Da muss man alle Zwischenrufe ausblenden und sich ganz auf die eigene Rede konzentrieren. Ein kleiner Witz ist immer hilfreich."

MacShane gehört mittlerweile wieder zu den Abgeordneten, die gelegentlich vom "Speaker" getadelt werden, weil sie allzu laut dazwischenrufen. Generell herrscht ein robuster Ton zwischen den "ehrenwerten" und "sehr ehrenwerten Mitgliedern", die sich gemäss alter Tradition nicht direkt ansprechen. Das hindert niemanden am Austausch exquisiter Beleidigungen. "Der sehr ehrenwerte Herr", ätzte einst Labour-Mann Dennis Skinner über einen konservativen Kollegen, "würde die Wahrheit selbst dann nicht erkennen, wenn sie quer über seine Augäpfel gesprüht wäre".

Die vielfältigen Traditionen und Euphemismen lassen jüngere Abgeordnete kalt. Die Liberaldemokratin Lynne Featherstone spricht abschätzig über den "Alt-Herrenklub" von Westminster. Für ihre Jungfernrede musste die Vertreterin des Nord-Londoner Wahlkreises Hornsey sechs Stunden ausharren und nach jedem Redner aufspringen in der Hoffnung, der Speaker werde sie aufrufen. Erst spät abends war es endlich soweit - zugeschaut haben damals nur noch Featherstones Kinder.