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Wachstumsfalle

WIRTSCHAFT Für den Wissenschaftler Meinhard Miegel ist die Finanzkrise der Gipfel einer gesellschaftlichen Fehlentwicklung

15.03.2010
2023-08-30T11:25:50.7200Z
3 Min

Ludwig Erhard sprach immer vom "Maßhalten", als es noch darum ging, nicht zu viel und nicht zu schnell zu konsumieren, damit sich die labile deutsche Nachkriegswirtschaft nicht überhitzen würde. Maßhalte-Appelle klingen heute deshalb eher weltfremd. Und doch kommen sie wieder in Mode. Auch Meinhard Miegel, der langjährige Berater von Politik und Wirtschaft und frühere Leiter des renommierten "Instituts für Wirtschaft und Gesellschaft" in Bonn, der heute als Vorstandsvorsitzender dem "Denkwerk Zukunft" in Berlin vorsteht, reiht sich mit seinem Buch "Exit. Wohlstand ohne Wachstum" in diese Riege ein.

Doch bei ihm geht der Appell zur neuen Bescheidenheit weit über das reine "Maßhalten" hinaus. Miegel setzt sich bis in alle philosophischen Verästelungen mit dem heutigen Wachstumsbegriff als Grundbedingung der westlichen Marktwirtschaft auseinander. Politiker, aber vor allem auch viele Wirtschaftswissenschaftler und Unternehmenslenker, meint der Autor, hängen auch heute noch am Fetisch Wirtschaftswachstum wie Drogensüchtige an der Nadel oder der Alkoholiker an der Flasche.

Aber kann es in einer endlichen Welt ein unendliches Wachstum geben? "Alle Systeme, Planungen und Programme wachstumsfokussierter Gesellschaften funktionieren nur unter der Bedingung, dass die materiellen Quellen morgen kräftiger sprudeln als heute", bilanziert Miegel. Auch das hat man früher schon einmal - 1972 - unter dem Stichwort "Grenzen des Wachstums" von Dennis Meadows für den "Club of Rome" gelesen. Aber vielleicht war Meadows damals seiner Zeit einfach voraus. Oder - viel wahrscheinlicher - andere, wie Miegel selbst, sind erst viel zu spät wach geworden. Heute, wo in der Parteienfarbskala Schwarz-Grün niemanden mehr schreckt, schreibt der 72-jährige Wissenschaftler fast ein wenig reumütig: "Die Völker der frühindustrialisierten Länder sollten einmal ihr kollektives Gedächtnis bemühen, um sich zu erinnern, mit welcher Rigorosität und nicht selten Brutalität sie Männer und Frauen lächerlich gemacht und an den Rand der Gesellschaft gedrängt haben, die schon frühzeitig auf die nachteiligen Folgen der heute dominierenden Wirtschaftsordnung, auf die Endlichkeit von Ressourcen, Umwelt und Natur oder auf die Beschädigung des sozialen Zusammenhangs hingewiesen haben."

Irreversible Schäden

Sicher muss sich jede Generation selbst Rechenschaft darüber ablegen, wie sie die Zukunft für ihre Enkel erhalten will. Für Miegel ist klar, dass die Finanz- und Wirtschaftskrise der Gipfel einer umfassenden gesellschaftlichen Fehlentwicklung ist. Der Raubbau an der Natur, die drohende Klimakatastrophe und die Endlichkeit fossiler Energieträger - all das lasse ein "Weiter so" einfach nicht mehr zu. "Diese Bilanz ist ein Dokument dramatischen Scheiterns. 200 Jahre industriell geprägten Wirtschaftens haben die Menschheit in die größte Bedrängnis ihrer bisherigen Geschichte gebracht. Manche der angerichteten Schäden sind irreversibel." Und damit meint Miegel die schmelzenden Gletscher und steigenden Meeresspiegel.

Deshalb resümiert er: "Die von den westlichen Gesellschaften verinnerlichte Wirtschafts- und Lebensweise ist dazu angetan, ihre Existenz auszulöschen - wohlgemerkt die Existenz eines spezifischen Gesellschaftsmodells, nicht die der Menschheit." Alle Industriestaaten stecken in einer selbstgestellten Wachstumsfalle. Hat die Soziale Marktwirtschaft also unter diesen Bedingungen überhaupt noch eine Zukunft? "Nur wenn das Wachstum höher ist als die Summe der Aufwendungen, steigt der materielle und vielleicht auch der immaterielle Wohlstand der Bevölkerung", schreibt Miegel. Manche haben dies vor ihm mit dem einfachen Begriff der "Nachhaltigkeit" umschrieben und sind zu ähnlichen Schlussfolgerungen gekommen.

Nichtsdestoweniger muss man dem Autor zustimmen, wenn er prognostiziert: "Von Jahr zu Jahr wird deutlicher werden, dass der auf Wirtschaftswachstum begründete Wohlstand die Wohlstandsform einer Epoche war, die mit dem 20. Jahrhundert endete. (...) Wohlstand heißt nicht, viel zu haben, sondern wenig zu benötigen."

Das "wenige" allerdings kommt bei Miegel sehr konventionell daher: Weniger Staat, weniger Schutz, weniger Rente, weniger Ruhestand im Alter, dafür mehr Gemeinsinn, mehr Bürgergesellschaft, mehr individuelles Selbstvertrauen in die eigenen Fertigkeiten, mehr Selbständigkeit womöglich neben einem Beruf in Festanstellung, mehr Lebensarbeitszeit, mehr Heimarbeit und mehr familiärer Zusammenhalt und Pflege im Alter. Das alles ist richtig, wahrscheinlich auch unausweichlich - neu ist es aber nicht.

Trotzdem ist Miegels "Wohlstand ohne Wachstum" ein lesenswertes Buch. Ein nachdenkliches allemal. Verstört fragt man sich jedoch am Ende: Ist das, was Miegel skizziert wirklich zwingend? Nein, zwingend ist dies alles nicht. Denn hier schreibt ein Menschheitsskeptiker, der wissen müsste, dass Fortschrittsoptimismus die Menschen in der Vergangenheit längst nicht vor allen, aber doch vor etlichen Katastrophen bewahrt hat.

Meinhard Miegel:

Exit. Wohlstand ohne Wachstum.

Propyläen Verlag, Berlin 2010; 300 S., 22,95 €