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Anhaltendes Misstrauen

Milli Görüs Werner Schiffauers Studie über eine neue Generation in der umstrittenen Organisation

15.03.2010
2023-08-30T11:25:51.7200Z
4 Min

Sitzt ein deutsches Paar beim Frühstück und schaut aus dem Fenster. Fährt ein türkisches Paar mit dem Auto vorbei, sie im Fond und mit Kopftuch, er hat einen Schnauzbart und sitzt am Steuer. ,Das ist mal wieder typisch für diese Moslems', sagt die Frau über ihr Frühstücksei hinweg, ,er vorne am Lenkrad und sie muss Kopftuch tragen und hinten sitzen.'" Der hochrangige Milli Görüs-Funktionär nimmt einen Schluck Kaffee, während er den Witz erzählt. An türkischen Tee hat sich der in Bremen aufgewachsene Muslimsprecher nie so recht gewöhnt. "Auf der Rückfahrt vom Supermarkt nimmt die Frau mit Kopftuch hinterm Steuer Platz und ihr Mann auf dem Rücksitz. ,Nun guck dir diese Moslems an', ruft der Mann aus, als der Wagen an ihrem Fenster vorbeifährt, ,da muss die Frau fahren und der Mann sitzt faul hinten drin und tut nichts.'"

Es ist zehn Jahre her, dass Ali Kizilkaya mit diesem Witz das Dilemma gläubiger Muslime in Deutschland deutlich machen wollte, denen die Mehrheitsgesellschaft mit anhaltendem Misstrauen begegnete, egal was sie taten. Auch im Frühjahr 2010 attestiert das Bundesamt für Verfassungsschutz Milli Görüs unverändert die "Ablehnung westlicher Demokratien" und das Streben nach einer "islamischen Weltordnung", obwohl sich die Organisation seit den 1970er Jahren stark gewandelt hat. Dies meint zumindet der Kulturanthropologe Werner Schiffauer. In seiner sorgfältigen Studie, die nach neunjähriger Forschung durch Beobachten und Befragen entstanden ist, beschreibt er die Veränderung. Er verweist auf Parallelen mit Migrantenorganisationen in der Geschichte und deutet Ähnlichkeiten mit ebenfalls religiös geprägten deutschen Organisationen an, nur dass undifferenzierte Lautsprecherei auf Milli Görüs-Veranstaltungen und beim politischen Aschermittwoch unterschiedlich gewertet würden.

Bezugspunkt Türkei

Milli Görüs heißt "Nationale Sicht" und wurde von dem Ingenieur und Unternehmer Necmettin Erbakan vor 50 Jahren in der Türkei als muslimische Massenbewegung gegen den herrschenden Laizismus gegründet. "Muslimische Sicht" wäre passender gewesen, war aber verfassungsrechtlich nicht möglich. Ihre Anhänger waren einfache, konservative Leute vom Land und Bewohner aus Istanbuls wachsenden Armenvierteln. Erbakan war charismatisch, er forderte Gerechtigkeit und eine Moderne, die nicht blind den Westen kopierte. Die "Gastarbeiter" brachten Milli Görüs nach Deutschland. Der Bezugspunkt aber blieb die Türkei, dorthin wollten sie zurückkehren. Das deckte sich mit den Erwartungen der deutschen Gesellschaft, die Arbeitskräfte und nicht Einwanderer geholt hatte.

Zur Brücke in die Mehrheitsgesellschaft wurden erst ihre Kinder, weil sie Deutsch konnten. Bereits in jungen Jahren übernahm der Nachwuchs Verantwortung, in der Familie und bei Milli Görüs. Die Engagiertesten besuchten das Gymnasium, in der Organisation stiegen sie rasch auf. Großveranstaltungen vermittelten auch ihnen ein Gefühl von Zugehörigkeit. Aber Erbakans antisemitische Ausfälle, die politischen Grabenkämpfe und finanziellen Tricksereien erschienen ihnen "unislamisch". Der Islam ist ein Fundament ihres Daseins, ihre Heimat ist Deutschland.

Postislamisten

Laut Schiffauer schätzen sie Demokratie und soziale Marktwirtschaft, Religionsfreiheit wünschen sie sich auch in muslimischen Ländern. Der Autor nennt sie Postislamisten. Nach seiner Sicht prägen sie mittlerweile Milli Görüs, auch wenn in vielen Gemeinden die Angehörigen der ersten Generation noch ein gewichtiges Wort zu sagen hätten. Die Postislamisten wollen laut Schiffauer keinen nur im Privaten praktizierten "Euro-Islam" und sie träumen nicht von einer Islamischen Republik in Mitteleuropa. Sie kämpften dafür, ihre Religion offen praktizieren zu dürfen.

Juristischer Streit

Milli Görüs verfügt mittlerweile über eine Rechtsabteilung und streitet für Moscheebauten, Religionsunterricht, für das Kopftuch und getrennten Sportunterricht. "Es war diese Praxis der Auseinandersetzung mit dem Rechtssystem, die dazu führte, dass das zunächst abstrakte Bekenntnis zur Verfassung im Laufe der Jahre immer mehr mit Leben gefüllt wird", urteilt Schiffauer. Der Verfassungsschutz behauptet dagegen, Milli Görüs vertusche seine wahren Absichten. Die Förderung "islamischer Identität" ebne Gewalttätern unter islamischer Flagge den Weg. Schiffauer hält dagegen, dass jeder Widerspruch von Milli Görüs-Mitgliedern gegen diese Argumentation als besonders hartnäckige Verstellung gewertet wird.

Ein Schwachpunkt der Untersuchung ist ihre mangelnde Präzision in der Genderfrage, das Verhältnis zwischen Männern und Frauen bei Milli Görüs bleibt unklar. Werner Schiffauer betont, dass Frauen eine wachsende Rolle spielen, wenn sie auch an der Spitze noch nicht angekommen sind - ein vertrautes Phänomen. Gesprächspartnerinnen hat der Kulturanthropologe innerhalb der Organisation allerdings nicht gefunden. Oder er hat sie nicht gesucht. Da bleiben Fragen offen.

Bei der nächsten Generation, die heute in der Jugendarbeit aktiv ist, beobachtet Schiffauer Ansätze zu dogmatischer Enge. Das mag einem jugendtypischen Wunsch nach einfachen Wahrheiten geschuldet sein. Wenn allerdings die Postislamisten mit ihrem Streben nach Anerkennung scheitern sollten, könnte der Nachwuchs mit Enttäuschung und Ablehnung der deutschen Gesellschaft reagieren, in die er hineingeboren wurde.

Werner Schiffauer:

Nach dem Islamismus. Eine Ethnographie der Islamischen Gemeinschaft Milli Görüs.

Suhrkamp Verlag, Berlin 2010; 391 S., 12 €