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Kohl war der wahre Sieger

18. MÄRZ 1990 Bei der ersten freien Volkskammerwahl setzte die Mehrheit der DDR-Bürger auf die Einheit und die D-Mark

15.03.2010
2023-08-30T11:25:51.7200Z
8 Min

Gegen halb acht Uhr kommt der Sieger zur Wahlparty. Mühsam, immer wieder von Fotografen bedrängt, bahnt sich Lothar de Maizière den Weg zur Bühne im Restaurant "Ahornblatt". Das Haus auf der Ost-Berliner Fischerinsel, das seinen Namen dem fünfzackigen Betondach verdankt, ist beängstigend überfüllt. Seit die Hochrechnungen ein Traumergebnis für die CDU signalisieren, gesellen sich Hunderte von Journalisten und Dutzende von Fernsehteams zu den geladenen Christdemokraten. Die haben sich bei Freibier und Pfälzer Wein seit Stunden in Stimmung gebracht. Einige schwingen Bundesfahnen in Schwarz-Rot-Gold. Andere schreien: "Wir haben gesiegt." Und wieder Andere, trunken vor Freude über das nahende Ende der DDR, skandieren: "Deutschland, Deutschland."

Der Spitzenkandidat der CDU-Ost sieht bleich und abgekämpft aus. Wie ein Triumphator wirkt Lothar de Maizière an diesem Abend jedenfalls nicht. Eher wie jemand, den das Votum von mehr als 40 Prozent für seine Partei überrascht und erschreckt hat und der plötzlich die Verantwortung spürt, die auf ihm lastet. "Mit dem Ergebnis - war mir klar - kannst du nicht mehr ausweichen. Das läuft auf dich zu", hat er später seine Empfindungen beschrieben. Während routinierte Politiker in dieser Situation jubelnd die Arme hochrecken würden, hält sich der 50 Jahre alte Spross einer alten hugenottischen Familie mit Gesten und Worten zurück. "Wir wollen uns freuen", sagt er, "aber wir wollen auch nicht übermütig sein." Und als ihn der Moderator fragt, ob nun die deutsche Einheit so schnell wie möglich kommen werde, ergänzt Lothar de Maizière: "Aber auch so gut wie möglich." Nach knapp zehn Minuten verschwindet er durch einen Hinterausgang, auf der Flucht vor der Medienmeute.

Enttäuschung bei der SPD

Ganz anders als im "Ahornblatt" war die Simmung wenige Kilometer weiter im "Saalbau Friedrichshain", dem Treffpunkt der Sozialdemokraten. Hier sollte die eigentliche Siegesfeier stattfinden. "Die Zukunft hat wieder einen Namen", steht in großen Lettern an der Stirnwand. Als die ersten Hochrechnungen die SPD bei etwas mehr als 20 Prozent sehen, breiten sich unter den Anhängern Enttäuschung und Resignation aus. Ratlosigkeit und hilflose Verwunderung zeichnen die Gesichter der Menschen. Einige kämpfen mit den Tränen. Der Vorsitzende der Ost-SPD, Ibrahim Böhme, und seine engsten Mitstreiter haben sich in einem Nebenzimmer verschanzt. Auch der westdeutsche SPD-Chef Hans-Jochen Vogel und sein Vize Johannes Rau sind dabei. Sie versuchen, den deprimierten Spitzenkandidaten, der sich später als Stasi-Spitzel entpuppte, moralisch aufzurichten. Doch der will sich erst später zum Wahlausgang äußern. Sein Stellvertreter Markus Meckel springt beherzt ein: "Die SPD wird die Herausforderung annehmen und eine starke Opposition sein."

Der wahre Sieger sitzt derweil im Bonner Konrad-Adenauer-Haus. Entspannt hat CDU-Chef Helmut Kohl in seinem Büro die Hochrechnungen verfolgt. Als feststeht, dass ein Christdemokrat die künftige Regierung in Ost-Berlin führen wird, tritt er vor die Journalisten. "Eine glückliche Stunde" sei dies für ihn, sagt der Kanzler. Die Bürger der DDR hätten deutlich gemacht, "dass sie einen Weg wollen, der mit der Bundesrepublik zusammen zum vereinten Deutschland führt." Kohl lässt keinen Zweifel, dass er das "Superergebnis" zum guten Teil sich selbst zuschreibt. Es könnte ja sein, sagt er, dass es bei den Wählern Sympathien für diesen oder jenen West-Politiker gegeben habe. Damit meint er offenkundig sich selbst. Denn er erinnert daran, dass er auf sechs Großkundgebungen in der DDR vor insgesamt mehr als einer Million Bürgern gesprochen habe.

Es war aber nicht nur die Zugkraft des Kanzlers, mit der sich das Resultat erklären ließ, sondern auch sein strategisches Geschick. Sechs Wochen zuvor war Helmut Kohl mit der Gründung der "Allianz für Deutschland" ein Meisterstück geglückt. Am 5. Februar 1990 stellte er im Gästehaus der Bundesregierung in Berlin-Dahlem die Repräsentanten des Zweckbündnisses vor: Neben de Maizière, Vorsitzender der Ost-CDU, die Spitzenmänner Wolfgang Schnur vom Demokratischen Aufbruch (DA) und Hans-Wilhelm Ebeling von der Deutschen Sozialen Union (DSU). Bei den Verhandlungen, die Kohl selbst führte, hatte er die neuen Partner mit gelindem Druck nicht nur von der Notwendigkeit der politischen Vernunftehe überzeugt, sondern auch die Linie vorgegeben: konsequente Marktwirtschaft, rasche Einführung der D-Mark und Beitritt der DDR zum Geltungsbereich des Grundgesetzes.

Dass die ostdeutschen Wahlkämpfer von Mitte-Rechts untereinander Vorbehalte hatten, war Kohl nicht entgangen. Die DSU, ein Bündnis von vorwiegend in Sachsen und Thüringen entstandenen konservativen Gruppierungen, verstand sich als Schwesterpartei der bayerischen CSU. Mit der Ost-CDU, die den Kurs der SED über Jahrzehnte mitgetragen hatte, wollte die DSU eigentlich nichts zu tun haben. Der Demokratische Aufbruch, eine ursprünglich oppositionelle Sammlungsbewegung, dessen Vorsitzender kurz vor der Wahl als Stasi-Zuträger aufflog, hielt ebenfalls Distanz zu den christdemokratischen "Blockflöten". Und auch im Adenauer-Haus hielt man die gewendete Namensschwester im Osten zunächst für suspekt. Doch die Einsicht, dass die Konservativen nur gemeinsam die in Umfragen hoch gehandelte SPD am 18. März würden schlagen können, war stärker als alle Abneigung.

Wahlkämpfe kannten die DDR-Bürger nur aus dem Westfernsehen. Was sie seit Februar erlebten, verstörte viele. Zwischen Ostsee und Erzgebirge wurde das Land mit Plakaten, Broschüren und Werbeslogans überschwemmt. Die West-Parteien führten dabei Regie. Prominente und weniger bekannte Politiker aus der Bundesrepublik schwärmten zu Kundgebungen aus. Die SPD wartete mit den Altkanzlern Helmut Schmidt und Willy Brandt auf. Außenminister Hans-Dietrich Genscher, in Halle geboren, erwies sich für die FDP als Zugpferd. Die größte Anziehungskraft übte jedoch der amtierende Kanzler von der CDU aus. Überall, wo Kohl hinkam, entfachte er Jubelstürme. Wenn er verkündete: "Keinem wird es schlechter gehen, vielen aber besser", hörten ihm hunderttausende Menschen gläubig zu. Mit ihm traten auch die Chefs der Allianz auf. Aber sie wirkten oft nur wie Staffage. "Der Marktplatz ist nicht meine Sache", räumte de Maizière ein. An der Seite des massigen Pfälzers habe er sich mitunter "wie das fünfte Rad am Wagen" gefühlt.

Materialschlacht

Die etablierten West-Parteien, die in der DDR formal nicht zur Wahl standen, lieferten sich eine Materialschlacht. So steuerte allein die CDU knapp 20 Millionen Flugblätter, zwei Millionen Aufkleber ("Wir sind ein Volk") und 500.000 Plakate ("Nie wieder Sozialismus") bei. Für etwa 400 Veranstaltungen wurden Redner aus dem Westen vermittelt, unter ihnen Präsidiumsmitglieder, Minister und Staatssekretäre. Das Adenauer-Haus gab Fernsehspots in Auftrag, ließ eine 16-seitige Zeitung in einer Auflage von fünf Millionen Exemplaren drucken, stellte Faxgeräte, Lautsprecheranlagen sowie Autos zur Verfügung und lieferte den ostdeutschen Wahlkämpfern Argumentationshilfen und Musterreden. Auch die CDU-Kreisverbände wurden mit der Aktion "Freunde helfen Freunden" in die Wahlkampfunterstützung einbezogen.

Gekämpft wurde mit harten Bandagen. So als herrsche noch Kalter Krieg, rückten die Christdemokraten die SPD als ihren schärfsten Widersacher in die Nähe der Kommunisten. "Sie waren doch mit diesen Leuten verbrüdert, nicht wir", hielt Kohl in Anspielung an die Zwangsvereinigung mit der KPD 1946 den Sozialdemokraten vor. Vertreter der Allianz behaupteten, die erst im Herbst 1989 gegründete SPD-Ost sei hochgradig von SED-Mitgliedern "unterwandert".

Holzen im Wahlkampf

Sozialdemokraten holzten zurück und erklärten, die Ost-CDU habe "40 Jahre zusammen mit der SED das Volk geknechtet". In ihrem Wesen habe sich die einstige Blockpartei nicht geändert: "Sie hat sich mit der West-CDU nur einen neuen Herren gesucht." Nicht wenige DDR-Bürger fühlten sich von den Polemiken, Gehässigkeiten und Geschichtsklitterungen abgestoßen. Statt sich fair und sachlich auseinanderzusetzen, so klagte Pfarrer Christian Führer von der Leipziger Nikolai-Kirche , "funktionieren viele Menschen so, wie sie in den letzten 40 Jahren erzogen worden sind: mit Klassenkampf und Feindbild."

Seit Bestehen der DDR hatten Oppositionelle immer wieder freie Wahlen gefordert. Am 18. März erfüllte sich ihr Wunschtraum. Die Bevölkerung, zuvor in einem von der Staatspartei vorgegeben Ritual immer nur "zum Falten" gegangen, nutzte ihr neues demokratisches Recht. Mit 93,22 Prozent war die Wahlbeteiligung sensationell hoch. Diesmal kamen keine Wahlschlepper, die säumige Bürger an die Urnen zerrten. Diesmal war die Entscheidung wirklich frei. Zu befinden hatten sie über die Kandidaten von 24 Parteien und Vereinigungen. Nur die Hälfte schaffte den Einzug in die auf 400 Abgeordnete verkleinerte Volkskammer. Manche wie der Demokratische Frauenbund errangen nur ein Mandat. Eine Sperrklausel war im neuen Wahlgesetz nicht vorgesehen. Die Allianz heimste insgesamt 192 Mandate ein, davon 163 für die CDU, 25 für die DSU und 4 für den DA.

Über die Gründe des Sieges waren sich Politiker und Demoskopen einig. Die Wähler, so analysierten Experten der Mannheimer Forschungsgruppe Wahlen, hätten nicht über die ostdeutschen Parteien und Politiker abgestimmt, "sondern über die tatsächlichen oder vermeintlichen Konzepte der Bonner Schwesterparteien. Der CDU wurde dabei der Vorzug gegeben, weil sie und Helmut Kohl für eine rasche Einigung stehen." Die Bürgerrechtlerin Bärbel Bohley drückte es knapper aus: "Die DDR-Bevölkerung hat jetzt das Geld gewählt."

Auch das Einbrechen der SPD, die lediglich auf 21,7 Prozent (66 Mandate) kam, war unschwer zu erklären. Die Wahl sei ein Votum für die Bonner Regierung gewesen, meinte Markus Meckel, "weil man sagt: Dort fallen die Entscheidungen für das Geld, das wir brauchen." Eigene Fehler kamen hinzu. Die Ost-SPD, urteilte der CDU-Politiker Friedrich Bohl, habe die Quittung für das Versagen ihrer Schwesterpartei erhalten. "Wenn immer es darum geht, die deutsche Einheit voranzutreiben, steht die SPD mit Oskar Lafontaine auf der Bremse."

Während sich die FDP über das magere Abschneiden des von ihr unterstützten Bundes Freier Demokraten mit nur 5,2 Prozent ein wenig grämte, war die PDS mit ihren 16,3 Prozent durchaus zufrieden. Parteichef Gregor Gysi nannte das Ergebnis "erstaunlich" angesichts der Tatsache, dass sich die Partei gerade erneuere und ohne Hilfe aus dem Westen auskommen musste. Die wirklichen Verlierer waren die im Bündnis 90 vereinten Bürgerbewegungen Neues Forum, Demokratie Jetzt und Initiative für Frieden und Menschenrechte. Sie waren die Träger der friedlichen Revolution, wünschten sich eine erneuerte, demokratische DDR und wurden nun von der Einheits-Euphorie überrollt. Noch zu Jahresbeginn war das Neue Forum eine Massenbewegung gewesen. Nun war die Anhängerschaft des Bündnisses auf 2,9 Prozent zusammengeschrumpft.

Große Koalition

Noch am Wahlabend hatte Lothar de Maizière der SPD eine Regierungsbeteiligung angeboten, vor allem deshalb, weil der Vereinigungsprozess verfassungsändernde Mehrheiten benötigte. Auch Kohl befürwortete eine Offerte an die SPD. Diese lehnte zunächst ab, ließ sich dann aber doch auf Koalitionsgespräche ein. Am 12. April wählte die Volkskammer de Maizière mit 265 Stimmen zum Ministerpräsidenten einer Koalitionsregierung aus Allianz, SPD und den Liberalen. "Zum ersten Mal trägt die Volkskammer ihren Namen zu Recht", sagte de Maizière in seiner Regierungserklärung. Bei der ersten Kabinettsitzung gab der letzte Regierungschef der DDR die Devise aus: "Unser Auftrag ist es, uns selbst abzuschaffen."