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Amateure bei harter Arbeit

VOLKSVERTRETUNG In nur 180 Tagen bereitete das frei gewählte Parlament die DDR auf den Beitritt vor

15.03.2010
2023-08-30T11:25:51.7200Z
7 Min

Es dauerte nur wenige Minuten, bis es vorbei war mit der Versöhnung, die kurz zuvor beim gemeinsamen Gottesdienst der neuen Abgeordneten in Ost-Berlin angemahnt worden war. Bereits die erste Sitzung des ersten frei gewählten Parlaments der DDR am 5. April 1990 lieferte einen Vorgeschmack auf die kommenden 180 Tage der letzten Volkskammer. Chaotische, turbulente Sitzungen mit Geschäftsordnungsdebatten, die viele Parlamentarier überforderten, sollten das Bild der Volksvertretung prägen.

Schon der Alterspräsident Lothar Piche von der konservativen DSU sorgte auf der konstituierenden Sitzung kurz vor Mittag nach wenigen Sätzen für erste Aufregung bei den Parlamentariern, als er in Anlehnung an den Wahlkampf von Kanzler Helmut Kohl (CDU) sagte: "Gott schütze unser deutsches Vaterland." Die gezielte Provokation zeigte wie gewünscht Wirkung: Riesenbeifall bei der Allianz der Konservativen, Schweigen bei PDS und vielen SPD-Abgeordneten. Dass Volkskammerpräsidentin Sabine Bergmann-Pohl (CDU) erst im zweiten Wahlgang die nötige Stimmenzahl bekam, um auf dem Präsidentenstuhl Platz zu nehmen, passte ins Bild.

Endlose Tagungen

Die meisten der 400 Abgeordneten waren am 2. Oktober 1990 froh, in ihre angestammten Berufe zurückzukehren. Als um 18.45 Uhr die letzte Sitzung der Volkskammer im einstigen Staatsratsgebäude geschlossen wurde, sah man in den Gesichtern die Spuren endloser Tagungen. Die meisten der am 18. März 1990 gewählten Volksvertreter waren keine Politprofis. Sie mussten den Parlamentarismus erst lernen und heimsten sich schnell den Ruf als "Laienspieler" und "Amateure" ein. Doch die Politiker der Nach-Wende-Zeit arbeiteten hart und nahmen ihr Mandat sehr ernst. Die Volkskammer war eine der "fleißigsten Volksvertretungen der Welt", wie der damalige CDU/DA-Fraktionschef Günther Krause kurz vor der Vereinigung der beiden deutschen Staaten betonte.

Bergmann-Pohl erinnerte in ihrer letzten Rede vor dem Parlament an den Wählerauftrag: "Er bestand darin, alle Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass wir heute die Arbeit beenden können. Wann war eine demokratische Volksvertretung jemals in der Geschichte mit einer solchen Aufgabe betraut worden?" Den Abgeordneten beschied sie: "Die Herausforderung war groß, die politischen Erfahrungen für die meisten von uns gering. Alle mussten lernen, die Regeln einer freiheitlichen parlamentarischen Demokratie einzuübe. Bei aller Unzufriedenheit über die Ergebnisse im Einzelnen haben wir doch immer wieder im entscheidenden Moment die Kraft für die gemeinsame Verantwortung aufgebracht."

In 37 Tagungen wurden 164 Gesetze und 93 Beschlüsse beraten und verabschiedet, darunter hunderte Seiten komplizierter Gesetzestexte zur Währungsunion oder zum Einigungsvertrag. Gesetze, an denen sich Bonner Abgeordnete in Jahrzehnten abgearbeitet hatten, wurden in wenigen Tagen und Wochen debattiert, in Ausschüsse verwiesen und schließlich verabschiedet. So engagiert wie über historisch einmalige Gesetze zur Währungsunion und zur Vereinigung wurde über Handwerksordnung und Schornsteinfegergesetz beraten. Alle Gesetze dienten einem Ziel: die DDR rechtlich auf den Beitritt zur Bundesrepublik vorzubereiten.

Es war ein engagiertes Parlament, das leidenschaftlich debattierte. Der Ton war oft unkonventionell, die Abgeordneten bedienten sich nicht aus dem Fundus abgedroschener Politphrasen, der ihnen schlicht nicht zur Verfügung stand. So wirkten viele Beiträge ehrlich und persönlich. Viele Hinterbänkler waren allerdings auch überfordert, wenn sich der heimliche Volkskammerpräsident Reinhard Höppner (SPD) in Geschäftsordnungsdebatten etwa mit dem eloquenten Juristen Gregor Gysi (PDS) stritt. Höppner, der Erfahrungen aus langen Jahren als Kirchensynodaler einbringen konnte, oblag es als Vizepräsident, in kniffligen Situationen den Vorsitz von Bergmann-Pohl zu übernehmen, den ihm die Ärztin dann freiwillig abtrat. Höppner, Hüter der Geschäftsordnung, brachte eine afrikanische Holzglocke in die Volkskammer ein - "mein Freund", wie er sie nannte.

Auf den Nägeln brannte den Abgeordneten vor allem der möglichst schnelle Beitritt zum Geltungsbereich des Grundgesetzes, die Aufarbeitung der Stasi-Vergangenheit und das Selbstverständnis des Parlaments: Keine Sitzung verging, ohne dass nicht zumindest einmal "die Würde" des Hohen Hauses angemahnt oder ein Bekenntnis zum Parlamentarismus abgegeben wurde.

Tumulte und Blamage

Eine parlamentarische Sternstunde war die Sondersitzung am 17. Juni 1990. Gerade hatten Kanzler Kohl, Bundestagspräsidentin Rita Süssmuth (CDU) und SPD-Chef Hans-Jochen Vogel auf der Tribüne im Palast der Republik Platz genommen, als die DSU den sofortigen Beitritt der DDR zur Bundesrepublik noch am selben Tag beantragte. Nach hitziger Debatte wurde der Antrag unter Höppners geschickter Leitung einfach in die Ausschüsse überwiesen. Da hatten die Gäste aus Bonn die Volkskammer längst verlassen.

Eine der turbulentesten Sitzungen bot der 8. August, an dem das Wahlgesetz beschlossen werden sollte. Volkskammer und Bundestag waren aus dem Urlaub zu Sondersitzungen nach Ost-Berlin und Bonn zurückbeordert worden. Die Volksammer sollte in kurzer Sitzung die Grundlage für das Wahlgesetz zur gemeinsamen Bundestagswahl und den Beitritt zum 14. Oktober beschließen, bevor anschließend der Bundestag darüber befinden sollte.

Die Sitzung war gezeichnet von tumultartigen Auseinandersetzungen, Geschäftsordnungstricks und einer Blamage für die Regierungsparteien. Nur für wenige Stunden anberaumt, zog sie sich bis nach 2.20 Uhr am nächsten Morgen. Stunde um Stunde prallten Geschäftsordnungsanträge auf Geschäftsordnungsanträge. Anträge wurden eingebracht und wieder zurückgezogen. Einigen Abgeordneten war dieses Treiben zu viel: Sie gingen ins Bett oder in die Kneipe. Höppner war das nicht entgangen. Mit einem Geschäftsordnungstrick versuchte er die drohende Pleite abzuwenden und verkündete kurzerhand, das Präsidium ziehe sich zu Beratungen zurück. Dann wurde hektisch versucht, die noch fehlenden Abgeordneten aufzutreiben. Das misslang - auch, weil die Handydichte noch gering war: Bei der Abstimmung gegen 1:15 Uhr fehlten neun Stimmen zur erforderlichen Zweidrittelmehrheit. Bergmann-Pohl war sichtlich um Fassung bemüht, als sie das Ergebnis verkündete. Von einem "Stück aus dem Tollhaus" sprach Werner Schulz von Bündnis 90/Grüne.

Historische Sondersitzung

Die DDR-Regierung konnte indes dem Ärger in der Bevölkerung über die immer schlechter werdende wirtschaftliche Lage nicht länger standhalten. Am 22. August beantragte Ministerpräsident Lothar de Maizière (CDU) eine Sondersitzung noch in der Nacht. Dabei "wollen wir den Fahrplan zur Herstellung der deutschen Einheit festlegen", sagte er. "Es wird Zeit, die quälenden Diskussion zu beenden. (...) Die letzten Wochen der Volkskammerarbeit waren gekennzeichnet von Anträgen des Beitritts, von Ankündigungen des Beitritts, von Ankündigungen der Ankündigungen, von der Bestimmung von Konditionen und leider damit verbundenen häufigen Streitigkeiten", begründete er den Antrag unter Beifall der Koalitionäre von CDU/DA, DSU und FDP - die SPD war bereits aus der Regierung ausgeschieden.

Einzige Tagesordnungspunkte an diesem Mittwochabend waren dann ein Antrag der DSU, den Beitritt sofort, mit Wirkung zum 22. August, zu beschließen, und ein Antrag der CDU, den Beitritt zum 14. Oktober zu vollziehen. Die streckenweise chaotische Sondersitzung dauerte bis in die Morgenstunden und begann erst einmal mit einer Auszeit des Parlaments zur Beratung der Fraktionen. Dieser Auszeit sollten noch viele folgen, der Beratungsbedarf war enorm. Nicht weniger als vier verschiedene Beitrittstermine wurden in unterschiedlichen Anträgen und Änderungsanträgen beraten, bis CDU/DA, DSU, FDP und SPD einen gemeinsamen Antrag der Fraktionen einbrachten. Darin wurde der 3. Oktober als Beitrittstermin festgeklopft.

Gegen 01:20 Uhr am 23. August rief Höppner zur namentlichen Abstimmung auf; kurz vor 03:00 Uhr verkündete dann Bergmann-Pohl das historische Ergebnis. Viele Parlamentarier sprangen jubelnd auf, als sie mit freudiger Stimme ins Mikrofon sprach: "Abgegeben wurden 363 Stimmen (...) Mit Ja haben 294 Abgeordnete gestimmt." Noch mehr Beifall kam von CDU/DA, FDP und Teilen der SPD, als PDS-Fraktionschef Gysi, dessen Abgeordnete mit "Nein" gestimmt hatten, erklärte: "Das Parlament hat soeben nicht mehr und nicht weniger als den Untergang der Deutschen Demokratischen Republik zum 3. Oktober beschlossen."

Keine Sitzung war jedoch von mehr Emotionen geprägt als die vorletzte Tagung: Am 28. September diskutierte das Parlament über die Stasi-Verstrickungen von Abgeordneten und Ministern. Die Debatte rüttelte am Grundverständnis des ersten frei gewählten Parlamentes der DDR. Sie fand - Ironie des Schicksals - ausgerechnet im ehemaligen Gebäude des Zentralkomitees der SED statt, da der Palast der Republik zwischenzeitlich wegen Asbestgefahr geschlossen worden war. Man sei es den Bürgern und sich selbst "schuldig, dafür zu sorgen, dass dieses Parlament nicht als Stasi-Parlament in die Geschichte eingeht", mahnte Marianne Birthler (Bündnis 90/Grüne). Zu der Zeit wurde bereits öffentlich viel über Stasi-Verstrickungen der Parlamentarier spekuliert.

Die Abgeordneten waren wie geschockt, als dann der Berichterstatter des Zeitweiligen Prüfungsausschusses zur Untersuchung der Stasi-Verstrickungen von Abgeordneten und Regierung mitteilte, dass die Stasi 56 Abgeordnete als informelle Mitarbeiter geführt hatte und nach Akteneinsicht 15 Fälle so gelagert seien, "dass unsererseits eine dringende Empfehlung zur sofortigen Mandatsniederlegung beziehungsweise zum sofortigen Rücktritt ausgesprochen wurde. Dabei waren auch drei Minister". Als Bergmann-Pohl sich weigerte, die Namen der Betroffenen offen zu nennen, hallten Protestrufe durch den Leninsaal.

Vor einer weiteren Eskalation meldete sich Bauminister Axel Viehweger (FDP) zu Wort. Natürlich habe er in seiner Tätigkeit als Stadtrat für Energie in Dresden Kontakte zur Stasi gehabt, aber niemals eine Verpflichtungserklärung unterschrieben. Erst am Vortag habe er erfahren, dass er schwerer belastet sei, als er angenommen habe. Deshalb trete er sofort von seinem Amt zurück - was er nicht als Schuldeingeständnis gewertet wissen wollte. Der Bann war gebrochen. Abgeordnete von FDP, CDU/DA, PDS und SPD berichteten über ihre Zusammenarbeit mit der Stasi, erklärten Gewissensbisse, vermerkten, dass aus ihrer Sicht niemandem Schaden zugefügt worden sei und sie Opfer seien, nicht Täter. An dem Tag verließen viele sehr nachdenklich den Saal.

Vier Tage später war es dann vorbei. "Mit dem morgigen Tag können wir sagen: Wir haben unseren Auftrag erfüllt, die Einheit Deutschlands in freier Selbstbestimmung zu vollenden", erklärte Bergmann-Pohl feierlich. Es war das letzte Mal, dass in der Volkskammer applaudiert wurde. Gut fünf Stunden später, um Mitternacht, gehörte das einzige frei gewählte Parlament der Deutschen Demokratischen Republik der Geschichte an.