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Traumatisiert

ZWEITER WELTKRIEG Die Historikerin Svenja Goltermann über Kriegsheimkehrer und die schwierige Anerkennung ihres Leids

12.04.2010
2023-08-30T11:25:53.7200Z
5 Min

Dietmar F., der als Unteroffizier das Grauen des Zweiten Weltkriegs durchgemacht hatte, gab vier Jahre nach Kriegsende in einem Gesprächsprotokoll an, immer noch "unter dem Eindruck seiner schweren Erlebnisse im Krieg und in der Gefangenschaft" zu leiden. Vor allem ein immer wiederkehrender schrecklicher Traum machte dem vormaligen Soldaten zu schaffen. Er träumte, "mit einem Kameraden (...) 15 tote Kameraden zum Friedhof bringen (zu) müssen. Das Pferd bockte, so dass sie gezwungen waren, die Toten auf der Schulter wegzutragen".

Schreckliche, unbewältigte Erfahrungen des Kriegs hatten sich in die Seele von Dietmar F. eingeprägt und quälten ihn noch viele Jahre später. Erst recht, weil in den ersten Jahren nach dem Krieg öffentlich nicht gesprochen wurde über Gewalt und Verbrechen, Schuld und Verantwortung in der NS-Zeit und im Krieg, wie die Politikwissenschaftlerin Hannah Arendt damals beobachtete. Aber das Verdrängen der Schrecknisse des Krieges gelang vielen heimgekehrten Soldaten nicht wirklich. Das Verdrängte kehrte in ihren Träumen wieder - so auch die Toten in den Träumen von Dietmar F., der deshalb "oft in Schweiß gebadet" aus dem Schlaf hochschreckte, wie es in dem Protokoll heißt.

Ein zweiter Fall: Hermann M., der im Sommer 1945 aus amerikanischer Kriegsgefangenschaft nach Hause gekommen war, schien seinem Vater zunächst ganz unauffällig, wenn auch "vielleicht ein wenig still" zu sein. Bis er Hermann eines Nachts, nur im Hemd bekleidet, vor der Haustür liegend fand. Als er seinen Sohn ins Haus zurück bringen will, schreit der den Vater an, er solle sich vorsehen: "Ob er denn nicht sehe, dass mindestens 10 Mann auf ihn angelegt hätten."

In der folgenden Zeit, berichtet der Vater dem Arzt, sei das so weitergegangen mit seinem Sohn. Hermann sei still gewesen, habe zwischendurch aber wirres Zeug geredet und in allen Winkeln und Ecken des nahe gelegenen Stalls nach möglichen Feinden herumgespäht.

Private "Erinnerungsfragmente" wie die von Dietmar F. und Hermann M. aus der Zeit von 1945 bis 1949 dienten der Historikerin Svenja Goltermann als Quellen zur Rekonstruktion eines, wie sie es nennt "Gedächtnisses des Krieges" im ersten Teil ihres Buchs "Die Gesellschaft der Überlebenden - Deutsche Kriegsheimkehrer und ihre Gewalterfahrungen im Zweiten Weltkrieg". Diese Erinnerungsfragmente sind das Echo traumatischer Erfahrungen im Krieg und ihrer oft lang dauernden Folgewirkungen.

Mentale Stumpfheit

Seit rund 30 Jahren sprechen die Psychiater in diesem Zusammenhang von "Posttraumatischen Belastungsstörungen" (PTBS). Bei Kriegsheimkehrern wurden und werden psychische und psychosomatische Störungen häufig beobachtet - mit Symptomen wie Zittern, mentale Stumpfheit, Angstträume, Panikattacken und Depressionen. Auch Halluzinationen, Suizidneigung und schwere Psychosen kommen vor. Solche reaktiven (Langzeit-)Folgen von Kriegstraumata traten während und nach den beiden Weltkriegen und später bei Vietnam-Veteranen auf. Ganz aktuell sind davon in erheblichem Umfang Bundeswehrsoldaten betroffen, die aus dem Einsatz in Afghanistan zurückkommen.

Vor allem im zweiten und dritten Teil des Buchs zeigt Goltermann, wie lange es im 20. Jahrhundert gedauert hat, bis in der Psychiatrie das Krankheitsbild "Posttraumatische Belastungsstörung" anerkannt wurde. Bis weit in die 1950er Jahre und länger war in der internationalen Psychiatrie die "herrschende Lehre", wie Goltermann es nennt, dem naturwissenschaftlichen Dogma verpflichtet, wonach psychische Störungen immer organische Ursachen haben. Deshalb stellte man bei Kriegsheimkehrern keinen ursächlichen Zusammenhang her zwischen den von ihnen angeführten seelischen Erschütterungen im Krieg und ihren nun hartnäckigen, oft lang dauernden Symptomen wie "Kriegszittern" oder mentale Stumpfheit - zumal man damals die menschliche Psyche für praktisch unbegrenzt belastbar hielt. Stattdessen vermuteten die Psychiater bei diesen "Kriegsneurotikern" Schädigungen des Gehirns durch Bomben- und Granaten-explosionen, "Dystrophie" infolge einer Mangelernährung in den Gefangenenlagern oder eine erblich bedingte Veranlagung. Auch wurde geargwöhnt, dass psychisch angeschlagene (oder auch nicht angeschlagene) Kriegsheimkehrer, die keine Chance auf dem Arbeitsmarkt sahen, zu psychiatrischen Krankengutachten kommen wollten, weil sie sich damit Entschädigungs- und Rentenansprüche versprachen - ähnlich den NS-Verfolgten und KZ-Opfern. Eine solche Vermutung war in manchen Fällen sicher nicht ganz abwegig. Aber das grundlegende Hindernis, psychische Schädigungen bei deutschen Kriegsheimkehrern anzuerkennen, war, wie Goltermann immer wieder betont, die "herrschende Lehre" der Psychiatrie. Da hatte eine Denkmöglichkeit keinen Platz, wonach allein schon die übermächtige Angst im Krieg sich in die Seelen der Soldaten so eingefressen haben konnte, dass sie reaktiv lange nachwirkt; was im Übrigen auch mit dem offiziellen Bild von einem heldenhaften Soldatentum, dem viele Ärzte damals anhingen, nicht vereinbar war. Aber Angst war - und ist gewiss immer noch - das verbreitete Gefühl bei Soldaten im Krieg. Das geht aus einer ärztlichen Umfrage bei zwei Infanteriedivisionen im Zweiten Weltkrieg hervor, die Goltermann in ihrem Buch anführt. Demnach behaupteten nur sieben Prozent der befragten Soldaten, niemals Angst zu verspüren: "Drei Viertel der Männer klagten über zitternde Hände, achtundfünfzig Prozent litten unter schwitzenden Handflächen, achtundneunzig Prozent wälzten sich in der Nacht schlaflos in ihren Betten."

Seit den 1980er Jahren wurde deutschen Kriegsheimkehrern die Diagnose "Posttraumatische Belastungsstörung" nicht mehr prinzipiell verweigert, allerdings gab es stets erhebliche Vorbehalte. Es sei nicht gelungen, die PTBS-Diagnose von "politischen und historischen Wertungen, von ökonomischen Interessen der Betroffenen und neuerdings auch von ökonomischen Interessen der Helfer zu trennen", zitiert Svenja Goltermann den Psychiater Klaus Dörner, der sogar dazu rät, auf die Diagnose "Posttraumatische Belastungsstörung" möglichst zu verzichten, nicht zuletzt "wegen der Unspezifizität des Syndroms".

Preiswürdig

Die Freiburger Geschichtswissenschaftlerin Goltermann ist in ihrer Studie konsequent den Weg einer kritischen "Historisierung" aller für ihr Thema entscheidenden Fragenkomplexe gegangen, besonders beim so populären wie deutungsmächtigen Konzept des Traumas oder auch beim Konzept der Erinnerung. Sie zeigt im geistigen Zugriff wie in der Analyse und dem argumentativen Vorgehen eine äußerst strenge methodische Auffassung von historischer Wissenschaft. Tatsächlich beruht das Buch auf der Habilitationsschrift der Autorin von 2007, für die sie mit dem Preis des Verbandes der Historiker und Historikerinnen Deutschlands ausgezeichnet wurde. Der Titel ihrer Habilitationsschrift "Gegenwärtige Vergangenheiten. Kriegsheimkehrer, Psychiatrie und Erinnerung in der westdeutschen Gesellschaft 1945-1970" umreißt sehr viel besser als der Titel des jetzt auf den Markt gekommen Buchs, um was es in den fast 600 Seiten geht; gewiss hat der Verlag den Titel populär umformuliert, damit sich das Buch besser verkaufen lässt.

Hoher Anspruch

Wie Svenja Goltermann in der Einführung zu ihrem Buch schreibt, bewegt sich der Fokus ihrer Untersuchung an "der Schnittstelle von Erfahrungsgeschichte, Wissenschaftsgeschichte und Erinnerungsgeschichte". Damit verbindet sie drei Perspektiven miteinander, wie das bisher für die deutsche Nachkriegszeit noch in keiner großen historischen Studie geleistet worden ist: nämlich die Perspektive einer "irritierenden Präsenz des zerstörerischen Krieges und der Gewaltverbrechen des Nationalsozialismus, wie sie in den persönlichen Erinnerungsfragmenten aufscheint, die Perspektive der psychiatrischen Wissensproduktion und die Aushandlung der diesbezüglichen Sagbarkeitsregeln in der öffentlichen Erinnerungskultur" - etwa im Film und in den Printmedien der Nachkriegszeit.

Der hohe wissenschaftliche Anspruch der Autorin zeigt sich in ihrer ambitionierten theoretischen Begrifflichkeit und präzisen argumentativen Artikulation. Auch die Quellenauswahl - psychiatrische Krankenakten, Filme, Zeitungsberichte - und der umfangreiche Anmerkungsapparat sind zu loben.

Svenja Goltermann:

Die Gesellschaft der Überlebenden. Deutsche Verlags-Anstalt, München 2009; 592 S., 29,95 €