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Wider der Diktatur der Scham

Islam Seyran Ates fordert eine sexuelle Revolution in der muslimsichen Welt

10.05.2010
2023-08-30T11:25:55.7200Z
3 Min

Seyran Ates gibt für ihren Kampf für Frauenrechte Herzblut. Wer ihre Biographie kennt und ihre jüngste Veröffentlichung - "Der Islam braucht eine sexuelle Revolution" - in den Händen hält kann daran kaum zweifeln. Bereits in jungen Jahren geriet die streitbare Anwältin mit türkisch-kurdischen Wurzeln wegen ihres Engagements in lebensgefährliche Situationen. So musste sie als Jura-Studentin mit ansehen, wie in einer Beratungsstelle ein Mann eine junge Türkin erschoss, wobei sie selbst schwerste Schussverletzungen davontrug. 2006 wurde sie zusammen mit einer ihrer Mandantinnen von deren Ehemann auf offener Straße tätlich angegriffen. Danach schloss sie vorübergehend ihre Berliner Anwaltskanzlei.

Nun, nach Herausgabe ihrer aktuellen Publikation, hat sie sich nach Angaben ihres Verlages "komplett aus der Öffentlichkeit zurückgezogen". Der Grund waren erneute Morddrohungen gegen die Autorin und ihre Familie.

Kulturschock

Seyran Ates war sechs Jahre alt, als sie aus dem rückständigen Anatolien nach Berlin kam. In ihrem aktuellen Buch schildert sie eindrücklich, in welcher Prüderie sie als Mädchen in ihrer Familie aufwuchs. Ihre Brüder durften etwa öffentlich und ungestraft an ihren Genitalien spielen, während an den Mädchen alles Geschlechtliche "ayip", unanständig, war. Diese Diktatur der Scham wurde aufrechterhalten, während zur gleichen Zeit die sexuelle Revolte der 68er tobte. So zog eine Kommune in jene Straße, in der auch Ates' Familie wohnte: Frauen und Männer lebten ohne Trauschein zusammen und liefen in Beisein von Kindern vorzugsweise nackt herum. Gerade solche biografischen Szenen illustrieren gekonnt den "Riesenschock" für Einwanderer wie Ates' Familie, die damals in die Bundesrepublik kamen.

Wie der Titel des Buches nahelegt, geht die Frauenrechtlerin von der These aus, dass "die islamische Welt eine sexuelle Revolution benötigt". Sie konstatiert in Bezug auf das Thema Sexualität "die tiefste Kluft zwischen der muslimischen und der westlichen Welt" und bezieht sich dabei auf ihr eigenes Erleben, die Aussagen ihrer meist muslimischen Interviewpartnerinnen sowie die im Anhang aufgeführte einschlägige Literatur. Die Autorin scheut die Konfrontation nicht, denn es handelt sich bei der vorliegenden Publikation weniger um eine nüchterne Auseinandersetzung mit dem Thema Sexualität im Islam, sondern, wie es der Untertitel verrät, um eine Streitschrift. Seyran Ates möchte mit ihrem pointierten und flüssig zu lesenden Manifest aufrütteln und allein der Umstand, dass sie Morddrohungen erhält, kann als Beleg dafür gesehen werden, wie zielsicher sie damit "heißes Eisen" angefasst hat.

Doch - und das ist nicht selten die Kehrseite ambitionierter politischer Schriften - der Blick der Autorin verengt sich auf die eine, angeblich alles entscheidende Heilsbotschaft: Es wird in der Tendenz alles auf das Thema Sexualität heruntergebrochen, damit zu stark generalisiert und die Berechtigung alternativer Wege in Abrede gestellt. So hält Ates zum Beispiel die Einschätzung muslimischer Feministinnen, man solle es den Frauen selbst überlassen, ob sie ein Kopftuch tragen wollen, für schlicht falsch, denn für sie ist das Kopftuch "eindeutig ein Symbol der Unterordnung der Frau unter den Mann". Auch sieht sie in dem Bestreben von Frauenrechtlerinnen in der islamischen Welt, einen "eigenen Weg" zu finden, der ihrer Kultur entspricht, lediglich ein Hemmnis.

Bei aller Kritik sollte dieses Buch als engagierter Beitrag einer mutigen Frau gelesen werden, die auf die erdrückenden Verhältnisse in jenen muslimischen Familien aufmerksam macht, in denen aufgrund starrer und rückwärtsgewandter Traditionen die Menschenrechte von Mädchen und Frauen grundsätzlich missachtet werden. Seyran Ates' Kindheit und ihre Erfahrungen als Anwältin muslimischer Frauen stehen für die Authentizität ihres politischen Anliegens.

Seyran Ates:

Der Islam braucht eine sexuelle Revolution. Eine Streitschrift.

Ullstein Verlag, Berlin 2009, 219 S., 19,90 €