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Angst vor dem Abgrund

GRIECHENLAND Nachdem das Sparpaket verabschiedet ist, wächst die Sorge um den Zusammenhalt der Gesellschaft

10.05.2010
2023-08-30T11:25:55.7200Z
5 Min

Kleftes, Kleftes" - Diebe, Diebe, schreit Alexandros Kolindriatis wie schon so oft in den vergangenen Wochen vor dem Parlament, in dem die Abgeordneten gerade das härteste Sparprogramm in einem europäischen Land seit Kriegende verabschieden.

Der 36-jährige Lehrer hat zwei kleine Kinder, seine Frau arbeitet daher nicht. Die Familie wird demnächst 3.000 Euro weniger im Jahr zur Verfügung haben, knapp 1.300 Euro bleiben im Monat übrig. Alexandros ist nicht nur darüber wütend, dass vor allem wieder die Mittelschicht zum Sparen herangezogen wird. Er ist wütend, weil "die Diebe, die Politiker uns in die Pleite getrieben haben. Sie haben uns nicht nur Geld, sondern die Zukunft gestohlen."

Dass sich die Mächtigen bereichert und das

Land geplündert haben, davon sind so ziemlich alle Griechen überzeugt. Die Forderung, endlich "einen im Gefängnis zu sehen", wird immer lauter. Selbst ganz normale Bürger haben daher am vergangenen Mittwoch Polizisten als Vertreter einer korrupten Staatsmacht mit Wasserflaschen und Stühlen beworfen. "Meinetwegen können sie das Parlament abbrennen", sagt Tassos K., ungerührt. "Die 300 Abgeordneten gehören doch alle in den Knast." Der Portier eines Hotels in der Innenstadt gehört nicht etwa zu einer gewaltbereiten Szene von Autonomen, sondern verdient sich mit 73 Jahren noch etwas zu seiner Rente dazu. "Die denken doch nur daran, an der Macht zu bleiben, so haben sie doch den Staat kaputt gemacht."

Appell des Premiers

Bei den gewaltsamen Ausschreitungen am Rande einer Demonstration waren am Mittwoch drei Menschen ums Leben gekommen. Überschattet davon hat das griechische Parlament das Sparpaket einen Tag darauf mit 172 zu 121 Stimmen verabschiedet. Es sieht unter anderem eine Kürzung der Beamtengehälter um acht Prozent und massive Einschnitte bei Pensionen und Renten vor. Außerdem soll die Mehrwertsteuer um zwei Punkte auf 23 Prozent angehoben werden.

Auch während der Debatte protestierten vor dem Parlament Gewerkschaften und Linksparteien gegen das Maßnahmenpaket. Der Appell von Premierminister Georgios Papandreou war ebenso schlicht wie dramatisch: "Patriotismus bedeutet an diesem Tag, Griechenland nicht bankrott gehen zu lassen." Er wisse um die Härte der Maßnahmen, er leide mit den Betroffenen, die dagegen auf die Straße gingen, versicherte der sozialistische Regierungschef. Doch eine Alternative gebe es nicht. Würden die Kredite nicht fließen, könne er in zwei Wochen keine Löhne und Gehälter mehr zahlen, machte auch Finanzminister Georgios Papakonstantinou dem Haus klar.

In einer turbulenten Debatte schoben sich die beiden großen Parteien, die sozialistische Pasok und die konservative Nea Dimokratia, gegenseitig die Schuld für die katastrophale Wirtschaftslage des Landes zu. Die im vergangenen Oktober vernichtend abgewählte Nea Demokratia hatte der seit Jahrzehnten krankenden Ökonomie den Todesstoß versetzt. Noch in den letzten Monaten ihrer Amtszeit hatte sie den Staatsapparat weiter aufgebläht, dabei aber die ohnehin wenig effektiven Kontrollmechanismen der Finanzämter geschwächt. Nach dem Wahlsieg der PASOK erfuhren die Griechen und die EU dann die volle Wahrheit: Das Defizit lag nicht wie befürchtet bei 6 Prozent. Es lag bei knapp 14 Prozent.

Die konservative Opposition versuchte sich nach dem Schock der Wahlniederlage unter ihrem neuen Vorsitzenden Andonis Samaras rasch wieder zu formieren. Sein Vorgänger Konstantinos Karamanlis verschwand von der politischen Bühne und auch am Donnerstag erschien er nicht auf seinem Abgeordnetensitz. "Sie verstecken Herrn Karamanlis", warf Papandreou der ND-Fraktion vor. Die Griechen warteten darauf, dass er sich zur Rede stellen lasse.

Samaras hat sich inzwischen für "Fehler der Vergangenheit" entschuldigt. Doch eine wirkliche Entschuldigung, befand Papandreou, wäre ein Ja zu den Sparmaßnahmen gewesen.

Doch Samaras hatte die Fraktion auf ein Nein verpflichtet. Bis auf seine innerparteiliche Rivalin und ehemalige Außenministerin Dora Bakoyanni folgte sie ihm. Der ND-Abgeordnete Kostas Tassoulas erklärte, man habe mit dem Nein zur gesamten Gesetzesvorlage auf die Schwächen einzelner Maßnahmen reagiert, da die Verabschiedung aufgrund der Regierungsmehrheit ja nicht gefährdet gewesen sei. Bei der Abstimmung über die einzelnen Artikel gab es auch von Seiten der Nea Demokratia Zustimmung.

Was die konservative Opposition versucht hat, war die Quadratur des Kreises. Sie wollte einerseits den Widerstand gegen die unpopulären Maßnahmen nicht allein der Linksopposition überlassen, sich andererseits aber auch nicht völlig verantwortungslos zeigen.

Demgegenüber enthielten sich drei Abgeordnete der PASOK der Stimme. Sie wurden noch während der Debatte von Papandreou mit einem dem Kommentar "In jeder Schlacht gibt es Verluste" aus der Fraktion ausgeschlossen. Die Drei bezeichneten die Maßnahmen als sozial ungerecht. Der Abgeordnete Jannis Dimaras erklärte seinen Schritt damit, dass er sich seiner Mutter und seinem Vater verpflichtet fühle, "die Tag und Nacht dafür gekämpft haben, dass ich das Selbstwertgefühl, die Ehre und die Rechte der einfachen Leute verteidige". Er fühle sich denen verpflichtet, die gleicher sozialer Herkunft seien wie er.

Entsetzen über die Tragödie

Nach dieser Abstimmung sei nichts mehr wie vorher im politischen System Griechenlands, kommentierte der bekannte Journalist Jannis Pretenderis. Die Glaubwürdigkeit der Parteien und einzelner Abgeordneter hinge nunmehr nur noch davon ab, ob die Sanierung Griechenlands über die Hilfskredite klappt.

Wie weit der Widerstand gegen die Sparmaßnahmen noch eskalieren könnte, ist derweil kaum mehr vorherzusehen. Die große Mehrheit der Griechen ist zutiefst schockiert, dass vermummte Demonstranten aus der autonomen Szene am Mittwoch zuerst eine Benzinflasche und dann einen Brandsatz in eine Bankfiliale geworfen haben, in der gut erkennbar Angestellte arbeiteten.

"Eine Gesellschaft verkohlt, ein politisches System fällt auseinander, ein Land löst sich in Luft auf", lautete die bittere Bilanz des Journalisten Foivos Karzis. Sie drückt aus, was man auf den Straßen Athens vielerorts empfindet: Entsetzen über die "Tragödie", wie Athener Zeitungen titeln, Perspektivlosigkeit und Angst vor der Zukunft, aber auch eine immense Wut. Eine Wut auf die gesamte politische Führung seit dem Sturz der griechischen Militärjunta 1974.

Vetternwirtschaft, Provisionsgeschäfte bei Waffenkäufen, ungehinderte Steuerhinterziehung der Reichen, Korruption auf allen Ebenen und ein Staatsapparat, der von den Abgeordneten über Jahrzehnte dazu benutzt wurde, "die eigenen Leute" zu versorgen, haben das Land an den Ruin geführt. Premier Papandreou hat das in der Debatte am Donnerstag noch einmal allen vor Augen geführt. Und er hat etwas gesagt, was das politische System des Landes völlig neu ordnen könnte, sollte er es denn ernst meinen: "Es ist mir gleichgültig, ob ich eine weitere Legislaturperiode als Regierungschef erlebe."

Wenn Georgios Papandreou es tatsächlich schafft, sein Kabinett dauerhaft auf Entscheidungen gemäß der erdrückenden Sach- und Sparzwänge einzuschwören, könnte ihm "ein Schritt zur Überwindung der Strukturen gelingen, die dieses Land 35 Jahre lang charakterisiert haben", spekulierte der Kommentator der Parlamentsdebatte, Georgios Sefertstis, und fügte hinzu: Die Opposition habe einen Schritt ins Leere getan. Genau davor habe Staatspräsident Karolos Papoulias gewarnt, als er das Land nach den Toten vom Mittwoch am Abgrund sah.