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Ich bin dann mal weg

VERTEIDIGUNG II Die Verkürzung des Wehr- und Zivildienstes zwingt Bundeswehr und Sozialverbände zur Umstellung

21.06.2010
2023-08-30T11:25:59.7200Z
5 Min

Max Hofmann ist 20 Jahre alt, Berliner und ausgebildeter Mechatroniker. Nach dem Zivildienst wollte er eigentlich das Abitur nachmachen und dann Maschinenbau studieren. Inzwischen überlegt er sich, vielleicht doch lieber mit behinderten Menschen zu arbeiten. Dabei hat er erst seit knapp drei Monaten mit ihnen zu tun: Am 1. April begann er seinen Zivildienst in einer Behindertenwerkstatt des Vereins Integral. 300 Menschen mit körperlichen und geistigen Behinderungen arbeiten hier im Berliner Stadtteil Friedrichshain: Sie falten Verpackungen für die Messgeräte namhafter Elektronikhersteller, kleben Schichten von Wellkarton aufeinander, so dass Kratzbäume für Katzen daraus entstehen, und schleifen Holzplatten ganz glatt, so dass man sie als Wickelauflage benutzen kann.

Hier hat Max Hofmann einen Platz als Zivi gefunden. Als er mit einer behinderten Mitarbeiterin der Werkstatt fotografiert werden soll, wird er umringt von anderen, die auch auf das Bild wollen, Tipps geben, ihn necken. Die behinderten Menschen in seiner Arbeitsgruppe mögen ihn offensichtlich. Und er hat als Zivi ein Berufsfeld kennengelernt, mit dem er sonst wohl kaum zu tun gehabt hätte.

Von 20 auf 9 Monate

Außer Max verbringen noch neun weitere junge Männer ihre neun Monate Dienstzeit bei Integral: der 23-jährige Marcel Schreier zum Beispiel (großes Bild) oder der 20-jährige Levin Schmitz-Lenders (kleines Bild), der für den Zivildienst aus Oldenburg nach Berlin kam.

Ab dem 1. Juli wird sich ihre Einsatzzeit verkürzen: Wie der Bundestag am vergangenen Donnerstag beschloss, sollen Wehrpflichtige nur noch sechs Monate dienen - für Zivildienstleistende gilt das genauso. Zivis können ihren Dienst zwar freiwillig um drei bis sechs Monate verlängern; doch wie viele das machen werden, ist ungewiss.

Fried Gebhardt, der Leiter der Integral-Werkstatt, ist wenig begeistert von der Verkürzung: Die sei "weder für die Dienststellen noch für die jungen Menschen vernünftig", findet er.

In den vergangenen 25 Jahren wurde der Zivildienst stetig kürzer: Ganze 20 Monate mussten Kriegsdienstverweigerer aus der Bundesrepublik noch bis 1990 dienen. Wer in der DDR den Waffendienst verweigerte, wurde 18 Monate lang als "Bausoldat" eingesetzt.

Als Werkstattleiter Gebhardt 1997 bei "Integral" zu arbeiten begann, blieben die Zivis noch 13 Monate lang; stufenweise schmolz ihre Dienstzeit auf die aktuellen 6 Monate zusammen. Die endgültige Abschaffung des Wehrdienstes - und damit auch des Zivildienstes - wird seit Wochen diskutiert.

Gewöhnungszeit

"Im ersten Monat lernen die Zivis die Arbeitsgruppen in der Werkstatt kennen", erklärt Gebhardt. "In dieser Zeit erfassen wir ihre Stärken - ob es eher ihr menschliches Einfühlungsvermögen oder ihre technische Begabung ist". Jeder Arbeitsgruppe in der Werkstatt ist ein Zivi zugeteilt, der den behinderten Mitarbeitern hilft, die Verpackungen genau zu kleben, der nachschleift, wenn die Wickelauflagen noch ein kleines bisschen rau sind und der manche der behinderten Mitarbeiter auch auf die Toilette begleitet. Neue Zivildienstleistende hätten "null Erfahrung mit behinderten Menschen", erzählt Gruppenleiter Dark Nachtigall. In seiner Gruppe habe eine Frau regelmäßig Krampfattacken Beim ersten Mal sei das für die jungen Männer ein Schock, "da müssen sie sich erst dran gewöhnen". Wenn sich behinderte Mitarbeiter und Zivis dann kennengelernt hätten, blieben künftig noch fünf Monate Zeit in der Werkstatt, rechnet Werkstattleiter Gebhardt vor - davon sind die Zivis aber drei Wochen auf Lehrgängen, gut eine Woche im Urlaub, und in der Regel noch einige Zeit krank.

Lücke von sechs Monaten

Ob ein Zivi nach seiner Pflichzeit noch drei bis sechs Monate länger bleibt, soll er laut Gesetz erst zwei Monate nach Dienstantritt entscheiden, damit nicht nur Bewerber, die sich für neun Monate verpflichten, begehrte Dienststellen erhalten. Für Gebhardt ein weiteres Ärgernis: "Wie soll ich denn da planen?" Die Zahl der Zivildienststellen aufzustocken, würde wohl auch schwierig - schon jetzt sind zwei der zwölf Stellen aus Mangel an Bewerbern nicht besetzt. Dieses Problem hat nicht nur die Behindertenwerkstatt von Integral: Die Mitgliedsorganisationen des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes, in dem mehr als 10.000 Organisationen im Sozial- und Gesundheitsbereich zusammengeschlossen sind, bieten zusammen etwa 15.000 Zivildienststellen an. Davon können aber jetzt schon nur etwa 11.000 bis 12.000 besetzt werden, berichtet Thomas Niermann, Abteilungsleiter des Verbandes für soziale Arbeit. Weil viele junge Männer ihren Zivildienst im Herbst beginnen - nach dem Schulabschluss oder der Ausbildung und dem Sommerurlaub - scheiden im Frühjahr besonders viele Zivis aus dem Dienst. Das Ergebnis: In Kindergärten, Behindertenwerkstätten und Altenheimen klafft im Sommer eine Lücke von drei Monaten: Von bundesweit 110.000 Zivildienst-Stellen sind aktuell nur etwa 40.000 besetzt. Im Januar war die Zahl der jungen Männer im Einsatz fast doppelt so hoch. Die Lücke könnte sich in Zukunft auf sechs Monate verlängern, befürchtet Niermann vom Paritätischen Wohlfahrtsverband.

Deshalb hofft er, dass viele Zivis ihren Dienst freiwillig verlängern - die Bundesregierung schätzt, dass etwa ein Drittel von ihnen diese Möglichkeit nutzen wird. Rettungsdienste oder Krankentransportdienste werden wohl in Zukunft dennoch auf diese Mitarbeiter auf Zeit verzichten: Hier dauere schon die Ausbildung drei bis vier Monate; wenn man alle Fortbildungskurse abziehe, "könnten die Zivildienstleistenden nur noch sechs bis sieben Wochen eingesetzt werden".

Vor allem junge Frauen

Seine Bedenken trug Thomas Niermann am vergangenen Montag auch bei einer öffentlichen Anhörung des Verteidigungsausschusses im Bundestag vor, zu dem die Abgeordneten den Bundeswehr-Verband und zahlreiche Verbände eingeladen hatten. Die Lösung für Behindertenwerkstätten, Rettungsdienste und Altenheime könnte nach Niermanns Meinung in der freiwilligen Verlängerung des Zivildienstes bestehen - und im Ausbau der Freiwilligendienste. Junge Menschen, die ein "Freiwilliges Soziales Jahr" (FSJ) ableisten, tun dies - im Gegensatz zu Zivildienstleistenden - ganz aus eigener Motivation. Ähnlich wie Zivis helfen sie Kindern, alten, kranken und behinderten Menschen. Der Paritätische Wohlfahrtsverband bietet heute schon 5.500 bis 6.000 Stellen für sogenannte FSJler an - ihre Zahl könnte laut Niemann weiter steigen.

Doch so einfach könne man Zivis nicht durch FSJler ersetzen, erklärt Joachim Hanff, Integral-Vorstandsvorsitzender. Einerseits seien FSJler für die Trägerorganisationen teurer, weil die Zuschüsse des Bundes niedriger ausfallen - andererseits absolvieren vor allem junge Frauen ein Freiwilliges Soziales Jahr. Für die Arbeit in der Berliner Behindertenwerkstatt werden aber vor allem junge Männer gesucht, am besten mit einer Ausbildung. Als FSJler hätte sich Marcel Schreier wohl nicht gemeldet; aber als Zivi ist der ausgebildete Fleischer so angetan von der "familiären Atmosphäre" in der Werkstatt, dass er wohl freiwillig drei Monate länger bleiben wird.