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Spannendes Rennen trotz klaren Vorsprungs

Bundesversammlung Christian Wulff geht als Favorit in die Abstimmung. Gleichwohl sind Überraschungen nicht auszuschließen

21.06.2010
2023-08-30T11:25:59.7200Z
4 Min

Eigentlich, sollte man meinen, ist alles schon vor der Wahl des neuen Staatsoberhauptes am 30. Juni klar -nicht so wie vor gut einem Jahr, als Union und FDP am 23. Mai 2009 in der Bundesversammlung zusammen 604 Wahlleute stellten. Damit waren sie auf Unterstützung etwa der bayerischen Freien Wähler mit ihren 10 Stimmen angewiesen, um ihren Kandidaten Horst Köhler schon im ersten Wahlgang mit der notwendigen absoluten Mehrheit von damals 613 Stimmen durchzusetzen. Seitdem haben die Bundestagswahl von vergangenen Herbst und mehrere Landtagswahlen die Zusammensetzung der Bundesversammlung neu bestimmt, und nun stellt Schwarz-Gelb Ende Juni die Mehrheit der insgesamt 1.244 Wahlleute: 496 werden von der Union entsandt und 148 von den Freidemokraten - macht zusammen 644 Stimmen und damit 21 mehr als zur absoluten Mehrheit erforderlich. Rein rechnerisch also sollte Niedersachsens Ministerpräsident Christian Wulff (CDU), der von CDU, CSU und FDP benannte Kandidat, keine Probleme haben, das Rennen für sich zu entscheiden.

Die Bundesversammlung, deren einzige Aufgabe die Wahl des Staatsoberhauptes ist, besteht laut Grundgesetz aus den - derzeit 622 - Bundestagsabgeordneten "und einer gleichen Anzahl von Mitgliedern, die von den Volksvertretungen der Länder nach den Grundsätzen der Verhältniswahl bestimmt werden". Zum Bundespräsidenten gewählt ist, heißt es in der Verfassung, "wer die Stimmen der Mehrheit der Mitglieder der Bundesversammlung erhält". Dazu wären in der 14. Bundesversammlung 623 Stimmen erforderlich, also eine mehr als die Hälfte aller Wahlleute. Wird diese Hürde in den beiden ersten Wahlgängen von keinem Kandidaten genommen, reicht im dritten Durchgang die einfache Mehrheit für die Wahl ins höchste Staatsamt.

Geht man allein vom numerischen Kräfteverhältnis aus, bliebe dem von SPD und Grünen nominierten früheren Chef der Stasi-Unterlagen-Behörde und einstigen Bürgerrechtler Joachim Gauck am 30. Juni also nur die Rolle eines Zählkandidaten: Mit zusammen 462 Stimmen - 333 von der SPD und 129 von den Grünen - fehlen Rot-Grün immerhin 161 Stimmen bis zur absoluten Mehrheit. Und auf Die Linke wird der parteilose Gauck nicht allzu viel Hoffnungen setzen können, jedenfalls nicht, solange diese ihre Kandidatin, die Bundestagsabgeordnete Lukrezia "Luc" Jochimsen, nicht nach dem ersten oder zweiten Wahlgang zurückzieht. Doch selbst wenn Die Linke mit ihren 124 Vertretern in der Bundesversammlung dann geschlossen für Gauck votieren würde - was angesichts der zahlreichen kritischen Äußerungen aus ihren Reihen an dem rot-grünen Kandidaten mehr als unwahrscheinlich scheint -, bliebe bis zur absoluten Mehrheit noch immer eine rechnerische Lücke von 37 Stimmen.

Die zu füllen wird auch den erneut mit 10 Wahlleuten auftretenden Freien Wählern nicht gelingen, die ihre Unterstützung für Gauck in Aussicht gestellt haben. Neben ihnen findet sich auch der mit einer Stimme vertretene Südschleswigsche Wählerverband (SSW) in der 14. Bundesversammlung wieder, ebenso wie die rechtsextreme NPD, die 3 Wahlleute stellt und wie 2009 mit dem nationalistischen Liedermacher Frank Rennicke ins Rennen geht.

Trotz der eigentlich klaren Mehrheitsverhältnisse bezieht die 14. Bundesversammlung ihre Spannung vor allem aus der Achtung, die Gauck auch in den schwarz-gelben Reihen genießt. 1999 wurde gar in der CSU daran gedacht, ihn gegen den damaligen rot-grünen Kandidaten Johannes Rau ins Rennen um das Bundespräsidentenamt zu schicken. In Sachsen und Brandenburg verzichteten jetzt die FDP-Landtagsfraktionen darauf, ihren Vertretern eine Wahlempfehlung mit in die Bundesversammlung zu geben - woraufhin die drei sächsischen FDP-Wahlleute in der vergangenen Woche ankündigten, den früheren Rostocker Pastor Gauck zu unterstützen. Und in Bremen ging die FDP sogar bei der Wahl der 5 Landesvertreter am vergangenen Mittwoch eine Zählgemeinschaft mit SPD und Grünen ein, um auf Kosten der CDU ihrem Landeschef Oliver Möllenstädt einen Sitz in der Bundesversammlung zu verschaffen: Möllenstädt will für Gauck votieren.

Die vielen anerkennenden Worte über Gauck aus den Reihen von Union und FDP schürten Spekulationen, dass Wulff im ersten und möglicherweise auch im zweiten Wahlgang die absolute Mehrheit verpassen könnte. Für Überraschungen sorgt zudem auf Bundesversammlungen bisweilen die Praxis der Parteien, neben aktiven und ehemaligen Politikern bei den Länder-Delegierten auch gerne mehr oder minder Prominente aus dem öffentlichen Leben als Wahlleute zu entsenden: Unternehmer, Gewerkschafter, Sportler, Künstler. 2004 etwa hatte Fürstin Gloria von Thurn und Taxis, von der CSU in die Bundesversammlung geschickt, dort für die rot-grüne Kandidatin Gesine Schwan votiert und dies auch öffentlich kundgetan.

In diesem Jahr setzt die CSU bei der Präsidentenwahl auf Parteipolitiker, doch fehlt es auch in der 14. Bundesversammlung nicht an Prominenz aus anderen gesellschaftlichen Bereichen: die Verlegerin Friede Springer sowie ihr Kollege Hubert Burda etwa kommen für die CDU und der Vizepräsident des Internationalen Olympischen Komitees, Thomas Bach, für die FDP. DGB-Chef Michael Sommer wählt ebenso auf SPD-Ticket wie der Schauspieler Walter Sittler; dessen Kollegin Nina Hoss wird für die Grünen erwartet und der Liedermacher Konstantin Wecker für Die Linke.

Wie auch immer sie votieren - spätestens nach dem dritten Wahlgang wird es einen Sieger geben. Und eines ist in der Tat schon klar: Auch das neue Staatsoberhaupt wird ein Mann sein - wie seine Amtsvorgänger auch.