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Krimi unter der Kuppel

BUNDESVERSAMMLUNG Die Wahl des Bundespräsidenten war spannend wie selten zuvor - Szenen eines ungewöhnlichen Tages.

05.07.2010
2023-08-30T11:26:00.7200Z
10 Min

Angela Merkel lächelt wieder. Als sie am vergangenen Mittwochabend um 21.06 Uhr zurück in den Plenarsaal des Bundestages kommt, strahlt die über den Tag wie versteinert wirkende Bundeskanzlerin. Bundesaußenminister Guido Westerwelle (FDP) tätschelt heftig ihren Oberarm - eine ungewöhnliche Geste zwischen den beiden -und lächelt ebenfalls. Spätestens da vermuten die meisten hier im Hohen Hause, dass nun alles in trockenen Tüchern ist für Kanzlerin und Bundesregierung.

Und tatsächlich. Kurz darauf verkündet Bundestagspräsident Norbert Lammert (CDU) das Wahlergebnis des dritten Wahlgangs der Bundespräsidentenwahl: 625 Stimmen für Christian Wulff (CDU) - das ist die absolute Mehrheit. Ein Aufschrei geht durch den Plenarsaal - tosender Beifall im Plenum. Die Bundeskanzlerin herzt Wulff, der sogleich mit Blumensträußen überhäuft wird. Dann beginnt der Reigen der Gratulanten. Gegenkandidat Joachim Gauck, der von SPD und Grünen nominiert worden war, ist einer der ersten, der dem Sieger die Hand schüttelt.

Es ist das Ende eines Berliner Sitzungsmarathons, wie ihn Deutschland noch nie erlebt hat. Neuneinhalb Stunden dauerte die Bundesversammlung, es ist die längste in der Geschichte des Landes. Und wahrscheinlich auch eine der spannendsten.

Der Krimi unter der Kuppel war im Laufe des Tages immer packender geworden. Zweimal hatten Wulff und die anderen Spitzenpolitiker der christlich-liberalen Koalition herbe Niederlagen hinnehmen müssen. Trotz komfortabler schwarz-gelber Mehrheit in der Bundesversammlung erreichte Wulff, zu diesem Zeitpunkt noch Ministerpräsident von Niedersachsen, in den ersten beiden Wahlgängen nicht die erforderliche Stimmenzahl.

Lilly schnüffelt

Dabei hatte das schwarz-gelbe Drehbuch etwas ganz anderes vorgesehen. Es sollte ein schneller, festlicher Wahlsieg für die Koalition von Angela Merkel an diesem schönen Sommertag werden, der schon mit strahlendem Sonnenschein beginnt. Lilly, der Polizeihund, ist an diesem Morgen schon seit 4.30 Uhr auf den Beinen und ruht sich jetzt, gegen10.00 Uhr auf dem Friedrich-Ebert-Platz vor dem Osteingang zum Reichstagsgebäude aus. Der Jack Russel Terrier ist ein Sprengstoffspürhund und hat hier heute morgen schon allesdurchgecheckt. In wenigen Minuten werden die ersten dunklen Autos der VIP's vorfahren, auf der Treppe stehen schon Dutzende von Journalisten und Kameraleute.

Mit Bauchgefühl

"Wie viele Wahlgänge erwarten Sie?", lautet die Standardfrage an die Ankommenden. Die meisten, die hier in die Mikros sprechen, rechnen mit einem Sieg Wulffs im ersten Wahlgang. "Ich glaube nicht, dass es drei Wahlgänge gibt", orakelt auch Gregor Gysi, Chef der Linksfraktion im Bundestag, nichtsahnend, dass er einen an Überraschungen reichen Tag vor sich hat.

In goldender Jacke steht die Rockmusikerin Petra Zieger auf der Treppe und wünscht dem neuen Präsidenten schon mal vorab "ganz viel Kraft und Energie und immer guten Durchblick". Die aus Erfurt stammende Musikerin wählt auf CDU-Ticket mit und gesteht, dass sie nach dem "Bauchgefühl" entscheiden wird.

Zieger ist eines der Mitglieder der Bundesversammlung, die für die Journalisten unter der Überschrift "Externe Promis" laufen. Von den 1.244 Mitgliedern der Versammlung sind die Hälfte Bundestagsabgeordnete, alle anderen werden von den Ländern entsandt - unter ihnen auch zahlreiche Prominente aus Kultur, Sport und Wirtschaft. So werden an diesem Mittwoch etwa die Schauspieler Nina Hoss, Martina Gedeck und Walter Sittler erwartet, der Liedermacher Konstantin Wecker, die Verleger Friede Springer und Hubert Burda.

Im Fahrstuhl hoch auf die Fraktionsebene direkt unter der Kuppel des Reichstagsgebäudes herrscht trotz der drangvollen Enge gute Laune. Unterwegs schaut Hermann Otto Solms, Bundestagsvizepräsident von der FDP, den gut 20 Mitfahrenden aufs Revers. "Ich bin ja hier fast der einzige, der den Delegiertenausweis offen trägt", sagt er verwundert. "Als Bundestagsvizepräsident hat man ja auch eine Vorbildfunktion", antwortet ein Mittfünfziger ohne Ausweis. Später wird auch er sich seine weiße Plastikkarte anheften, die ihn als Delegierten von der Union ausweist. Ohne die Karte kommt an diesem Tag niemand in den Plenarsaal, die Ordnungshüter an den Eingängen kennen kein Pardon. Auf der dritten Etage angekommen ziehen sich die Delegierten in die Fraktionssäle zurück, die Partei- und Fraktionsspitzen haben zum letzten Einschwören auf ihre jeweiligen Kandidaten getrommelt.

Vor den Räumen stehen bereits Hunderte Sektgläser ordentlich aufgereiht. An den Glasfronten zu den Außenterrassen direkt unter den Reichstagstürmen richten junge Servicekräfte die Wärmeplatten auf edlem weißen Tuch. Alles soll bereitet sein, denn direkt im Anschluss an die Bundespräsidentenwahl werden die Delegierten und ihre Gäste hier bei Sekt und Buffet feiern - gegen 14.30 Uhr, falls Christian Wulff es im ersten Wahlgang schafft. Und das wird von fast allen erwartet - schließlich gehören 644 Delegierte zum schwarz-gelben Lager, ein sicheres Polster selbst bei einigen Abweichlern, denn bei 623 Stimmen ist die in den beiden ersten Wahlgängen erforderliche absolute Mehrheit erreicht.

Die Plätze im Plenarsaal, sind heute mit Karten in denselben Farben gekennzeichnet wie die Ausweise, damit sich alle zurechtfinden. Auf der Pressetribüne greift derweil die Mallorca-Handtuch-Methode um sich. Zig Journalisten legen Visitenkarten oder Zettel mit dem Namen ihres Mediums auf die Bänke, um sich einen der raren Plätze mit bester Aussicht ins Plenarrund zu sichern. Inzwischen füllt sich auch die Ehrentribüne. Hans-Dietrich Genscher, früherer Langzeit-Außenminister und FDP-Grande, nimmt in der ersten Reihe Platz. Wenig später kommen Altbundespräsident Roman Herzog samt Gattin, der Präsident des Bundesverfassungsgerichts, Andreas Voßkuhle, und die frühere Bundestagspräsidentin Rita Süssmuth (CDU).

Drängelei auf der Pressetribüne

Um 11.51 Uhr betreten Bettina Wulff, die Ehefrau des schwarz-gelben Kandidaten, und Wulffs 17-jährige Tochter Annalena aus erster Ehe die Ehrentribüne. Unmittelbar danach folgen der Kandidat von SPD und Grünen, Joachim Gauck, und seine Lebensgefährtin Daniela Schadt. Da er kein Delegierter ist, darf Gauck zunächst nicht ins Plenum. Bettina Wulff begrüßt Gauck wie einen alten Bekannten, minutenlang sprechen beide angeregt miteinander. Die Fotografen drängeln auf der nebenliegenden Pressetribüne, um diese Szene einzufangen. Währenddessen haben Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU), ganz in Schwarz gekleidet, und Christian Wulff den Plenarsaal betreten und setzen sich in die erste Reihe.

Um 12.24 beginnt die Abstimmung. Die Wahlleute werden in alphabetischer Reihenfolge aufgerufen. Die blinde Biathletin Verena Bentele, die bei den Paralympics fünf Goldmedaillen gewann und heute hier Wahlfrau ist, hat Glück mit ihrem Nachnamen, sie kommt schnell an die Reihe. Am Arm ihrer Cousine findet sie den Weg zur Wahlurne und hat anschließend Zeit genug, das detailgetreue Blinden-Modell des Reichstagsgebäudes zu befühlen, das derzeit im Untergeschoss untergebracht ist.

Im Foyer haben alle großen Fernseh- und Rundfunkanstalten ihre Studios aufgebaut, überall schwirren die Redakteure der Printmedien herum. Rund 1.200 Journalisten und Techniker sind im Reichstagsgebäude unterwegs. Doch noch gibt es keine Sensation zu vermelden. Ulrich Deppendorf von der ARD hat den Vizepräsidenten des Internationalen Olympischen Komitees und heutigen FDP-Wahlmann, Thomas Bach, neben sich platziert. Sobald Bundestrainer Jogi Löw mit seiner Pressekonferenz in Südafrika fertig ist, wird Deppendorf Bach erst nach der Fußball-WM fragen - und dann zur Bundespräsidentenwahl überleiten.

Wannsee ist weit

Um 13.29 Uhr schließt Lammert den ersten Wahlgang. Nun ist Warten auf das Ergebnis angesagt. Für einen gemütlichen Spaziergang um den Reichstag reiche die Zeit, keinesfalls aber für einen Ausflug an den Wannsee, gibt Lammert den Delegierten mit auf den Weg. Der Sänger der Band "Die Prinzen", Sebastian Krumbiegel, verzichtet auf einen Spaziergang bei 32 Grad Celsius im hochsommerlichen Berlin. Er drückt dem SPD-Außenexperten Hans-Ulrich Klose seine Kamera in die Hand und lässt sich am Rednerpult ablichten. Einige Delegierte bummeln zum Sonderstand der Post, wo es Postkarten mit Sonderstempeln gibt. Für den CSU-Bundestagsabgeordnete Max Straubinger ist es bereits die vierte Präsidentenwahl, der er beiwohnt, und damit der vierte Stempel.

Auf der Fraktionsebene, zwei Etagen über dem Plenarsaal, wo sich die geladenen Gäste tummeln, herrscht lockere Sommertag-Ausflugsstimmung. Einige gehen hoch auf die Kuppel, viele stehen draußen auf der Terrasse und erfrischen sich mit Wasser, Kaffee oder Säften. Die Journalisten im Foyer werden gegen 14.00 Uhr unruhig. Bald muss das Ergebnis kommen. Die Kanzlerin kehrt um 14.11 Uhr ins Plenum zurück, da ist sie bereits informiert. Sie unterhält sich mit dem neben ihr sitzenden Wulff. "Der hat gerade was vom zweiten Wahlgang gesagt", raunt ein Fernseh-Redakteur seinem Kollegen zu, das habe er von den Lippen ablesen können. Oben auf der Ehrentribüne schüttelt Bettina Wulff den Kopf. Sie weiß es offensichtlich schon: Ihr Mann ist im ersten Wahlgang krachend durchgefallen. Auf der anderen Seite im Rund strahlt Grünen-Fraktionschef Jürgen Trittin. Wie ein Lauffeuer spricht sich herum, was der Bundestagspräsident um 14.15 verkündet: 499 Stimmen für Gauck, 126 für Linken-Kandidatin Luc Jochimsen, 3 für den NPD-Kandidaten Frank Rennicke. Wulff hat nur 600 Stimmen bekommen, das heißt: 44 aus dem eigenen Lager fehlen. Ein Raunen geht durch den Plenarsaal. Ein zweiter Wahlgang ist nötig. Versteinerte Gesichter in den ersten Reihen von Union und FPD. Der Kandidat quittiert die Schlappe mit unbewegtem Gesichtsausdruck. Die Sitzung wird für eine Stunde unterbrochen. Zeit für intensive Gespräche in den Fraktionen.

Frust bei der Union

"Das ist ein Hammer", entfährt es einem Fernsehreporter. Im Foyer ist jetzt die Hölle los. "Die kommen gleich raus, wir brauchen Reaktionen", ruft einer. Gauck sagt in eine Kamera auf die Frage nach seinem Gefühl: "Das erste Gefühl: Demokratie ist lebendig und funktioniert." Jürgen Trittin jubelt: "Darauf haben wir gehofft und gesetzt!" Und SPD-Chef Sigmar Gabriel freut sich, dass die Wahlmänner und Frauen gezeigt hätten, "dass sie frei sind, dass es hier nicht nach Befehl und Gehorsam geht." Journalisten rufen: "Wir brauchen jetzt mal einen von der Union." Doch nach Fernsehauftritten ist dort nicht vielen zumute.

Auf dem Weg zur Fraktionsebene grantelt der ehemalige bayerische Ministerpräsident Edmund Stoiber (CSU): "44 Stimmen, das ist ein bisschen zu viel." Dass es knapp werden könnte, damit hatten auch einige in der Union gerechnet, manche sogar damit, dass es im ersten Wahlgang nicht für Wulff reichen könnte. Aber 44 Stimmen? Für die schwarz-gelbe Koalition und ihre Kanzlerin Merkel ein schmerzhafter Tiefschlag. NRW-Arbeitsminister Karl Josef Laumann, der für die CDU lange im Bundestag saß, schäumt: "Ich finde, die Leute, die so was machen, sind krank im Kopf." Derweil zeigen sich FDP-Delegierte überzeugt, dass die Abweichler nicht aus ihren Reihen kommen. "Die Vier, die für Gauck stimmen wollten, haben das vorher öffentlich gemacht", sagt der liberale Bundestagsabgeordnete Jens Ackermann. Kistenweise wird Wasser in die Fraktionssäle gerollt.

Die FPD-Sitzung dauert nur wenige Minuten. Westerwelle sagt vor der Presse, die FDP stehe geschlossen hinter Wulff - die vier Abweichler erwähnt er nicht. Gauck geht zu den Grünen und appelliert an die Delegierten, dass sie akzeptieren sollten, wenn Wulff gewählt werde. In der Unionsfraktion werben Merkel und Kauder abermals für Wulff. Allerdings recht zurückhaltend, es soll wohl kein Anlass gegeben werden, dass vom Druck auf Abweichler gesprochen werden könnte. Um 15.25 Uhr beginnt der zweite Wahlgang, um16.18 Uhr die Auszählung.

Eine Dreiviertelstunde später wird auf der Pressetribüne hektisch gesimst. Ein Journalist raunt: "Wulff hat es wieder nicht geschafft." Drei Minuten später, um 17.05 Uhr, verkündet Lammert das Ergebnis: Wulff kommt auf 615 Stimmen, Gauck auf 490. Das heißt: Ein dritter und entscheidender Wahlgang wird notwendig. In diesem reicht die einfache Mehrheit. Das wiederum heißt: Wer die meisten Stimmen auf sich vereinen kann, wird Bundespräsident.

Jetzt schauen alle auf Die Linke. Für die meisten dort gilt Gauck, der ehemalige Chef der Stasi-Unterlagenbehörde, als "Hexenjäger und Anti-Kommunist" (Diether Dehm) als unwählbar. Die Linke müsste jetzt überlegen, dass mit ihrer Hilfe ein CDU-Kandidat durchkommen werde, sagt Fritz Kuhn von den Grünen in ein Mikro. Und sein Parteichef Cem Özdemir meint, dass sei jetzt eine "Chance für Die Linke", sich endlich von der SED abzugrenzen.

Auf der Fraktionsebene starren viele hungrig auf das noch abgedeckte Buffet und fragen sich, wann es endlich losgeht mit Kasseler und Sauerkraut, Kartoffelsalat und Leberkäse, Lasagne und Geschnetzeltem. Und ein frisches Bier wäre jetzt, da es schon 19.00 Uhr ist, auch nicht schlecht.

»Damenunterwäsche, Spielwaren«

Einige Wahlfrauen und Gäste wollen noch einmal auf die Kuppel und quetschen sich in den schon überfüllten, aufgeheizten Fahrstuhl. Der fährt in die falsche Richtung und hält auf allen Etage. Als die Tür auf der Fraktionsebene erneut aufgeht, steht ein immer noch erstaunlich gut gelaunter Dirk Niebel vor der Tür. "Fraktionsebene: Damenunterwäsche, Spielwaren", ruft der FDP-Minister.

Die Spitzen von SPD, Grünen und Linken beraten hinter verschlossenen Türen - doch vergeblich. Gregor Gysi tritt vor die Presse: Luc Jochimsen werde im dritten Wahlgang nicht wieder antreten, die Abstimmung sei für die 124 Wahlleute freigegeben, sagt der Fraktionschef. "Selbstverständlich gehe ich davon aus, das die beiden konservativen Kandidaten für uns nicht wählbar sind", betont er. Er rechne damit, dass sich die meisten Wahlleute der Linken enthalten würden. Da platzt dem Grünen-Europaabgeordneten Werner Schulz der Kragen. "Ihr hättet über euren SED-Schatten springen können!", ruft der ehemalige DDR-Bürgerrechtler empört.

Parallel tagt auch die Unionsfraktion. Merkel habe ihren Leuten Mut mit Vergleichen aus dem Fußball gemacht, wird hinterher erzählt. "Wir hatten das Serbien-Spiel. Jetzt kommt unser England-Spiel", soll die Kanzlerin gesagt und für ein "kämpferisches Signal" geworben haben. Um 19.31 Uhr ist der dritte Wahlgang eröffnet und endlich wird auch das Buffet freigegeben.

Um 21.13 verkündet Norbert Lammert das Ergebnis: Es gab 121 Enthaltungen, die Linken applaudieren, es gab aus ihren Reihen offenbar kaum Stimmen für Gauck. Der erhielt 494 Stimmen. Minutenlang klatschen SPD und Grüne, der Ex-DDR-Bürgerrechtler und ehemalige Pfarrer ist gerührt und wirkt Bruchteile von Sekunden, als bete er mit gesenktem Kopf. Auf Wulff entfallen 625 Stimmen. Fast alle im Saal stehen auf. Auch der 70-jährige Gauck applaudiert. Als Bundestagspräsident Lammert Wulff fragt, ob er die Wahl annehme, erklärt der 51-Jährige sichtlich erleichtert: "Sehr geehrter Herr Präsident. Ich nehme die Wahl außerordentlich gern an und freue mich auf die verantwortungsvolle Aufgabe".