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Dauerzwist ums Wasserglas

DEUTSCHLAND Zwei Jahrzehnte nach der Wiedervereinigung kommen die Bundestagsfraktionen bei der Frage nach dem Stand der inneren Einheit zu gegensätzlichen…

04.10.2010
2023-08-30T11:26:05.7200Z
5 Min

Von einer Bilanz werden zumeist Zahlen erwartet. Zur Bilanz von 20 Jahren deutscher Einheit gehören beispielsweise solche Zahlen: "Die Löhne (...) haben sich in den ostdeutschen Ländern von knapp 57 Prozent des westdeutschen Niveaus in 1991 auf 83 Prozent in 2009 erhöht" oder "Das je Einwohner erzeugte Bruttoinlandsprodukt ist (...) zwischen 1991 und 2009 von 43 auf 73 Prozent des westdeutschen Niveaus gestiegen." So ist es im Jahresbericht zum Stand der deutschen Einheit 2010 (17/3000) zu lesen, den die Bundesregierung pünktlich zum 20. Jahrestag der Wiedervereinigung vorgelegt hat. Er stand zwar am vergangenen Donnerstag nicht auf der Tagesordnung des Bundestages, als die Abgeordneten zur parlamentarischen "Primetime" am Vormittag das Thema debattierten, wurde in der Aussprache aber gleichwohl immer wieder zitiert.

Parteipolitische Perspektive

Dabei oblag Sachsen-Anhalts Ministerpräsidenten Wolfgang Böhmer (CDU) der Hinweis, dass die Bewertung solcher Zahlen regelmäßig auch von der parteipolitischen Perspektive abhängt. Ostdeutschland habe im Vergleich zu den "ehemaligen sozialistischen Bruderländern" ein "hervorragendes Niveau" erreicht, im Vergleich zu den alten Bundesländern aber "noch nicht die Durchschnittswerte", sagte er und fügte hinzu, während die einen dies "heute zu einer Katastrophe" erklärten, ließen sich die anderen "dadurch nicht entmutigen".

Da mag sich der Eindruck aufdrängen, dass es mit der Sicht auf zwei Jahrzehnte Einheit sein könnte wie mit dem Wasserglas, das von diesem als halbvoll und von jenem als halbleer betrachtet wird. In der Debatte zeichneten insbesondere Vertreter der Koalitionsfraktionen ein eher helleres Bild der Einheit, während in den Oppositionsreihen die Schattenseiten stärker betont wurden.

Der CSU-Abgeordnete Michael Glos feierte die Wiedervereinigung als "wunderbares Geschenk". Dass "die Geschichte des ausgehenden 20. Jahrhunderts in Deutschland so verlaufen ist", sei "ein Grund zur Freude und nicht zum Jammern", befand er: "Hätten sich diejenigen, die die Wiedervereinigung herbeigeführt und möglich gemacht haben, so im Klein-Klein ergangen wie manche Redner heute", bemängelte er, wäre das "große Werk der deutschen Einheit nie zustande gekommen".

Einen "wirklich guten Grund zu feiern" sah auch die SPD-Parlamentarierin Iris Gleicke im 20. Jahrestag der Einheit. Wenn aber etwa "die nach der Wende vollzogene Deindustrialisierung Ostdeutschlands penetrant geleugnet" werde, gewinne sie den Eindruck, dass es manchen gar nicht um eine Bestandsaufnahme der zurückliegenden zwei Jahrzehnte gehe. Ostdeutschland sei "in den meisten Bereichen zur bloßen Werkbank des Westens deklassiert" worden mit der Folge einer "katastrophalen Massenarbeitslosigkeit mit verheerenden ökonomischen und seelischen Folgen für die Betroffenen, die bis heute noch nachwirken", klagte Gleicke. Wie andere Redner verwies sie darauf, dass die Arbeitslosigkeit in den neuen Ländern noch immer nahezu doppelt so hoch sei wie in Westdeutschland: "Wer dies alles leugnet und hinter Floskeln zu verstecken sucht", trage nicht zur Vollendung der Einheit bei. Trotz "großartiger Fortschritte" sei festzuhalten, "dass noch viel zu tun ist". Ähnlich äußerte sich SPD-Fraktionsvize Dagmar Ziegler, die Ost- wie Westdeutschen bescheinigte, "in den vergangenen 20 Jahren Großes geleistet" zu haben. Der Bundesregierung warf sie zugleich mit Blick auf deren Haushaltsentwurf vor, "auf Kosten des Ostens" sparen zu wollen.

"Hartz-IV-Land"

Auch der Grünen-Abgeordnete Stephan Kühn monierte, die Rahmenbedingungen für den Osten würden durch die Regierungspolitik verschärft. Die Bilanz von 20 Jahren Einheit sei "zweifelsfrei positiv", doch gebe es neben Licht auch Schatten, sagte er. Ein besonderes Entwicklungshemmnis für die Ost-Wirtschaft sah Kühn in der "anhaltenden Abwanderung junger ausgebildeter Menschen". Notwendig sei ein "Perspektivwechsel" in der Wirtschaftsförderung "weg von der Investitions- und Infrastrukturförderung, hin zu einer Bildungs- und Innovationsförderung": Statt zehn Autobahn-Kilometer zu bauen, solle man aus den Solidarpakt-II-Mitteln "lieber ein Fraunhofer-Institut finanzieren".

Für Die Linke warf ihre Parteivorsitzende Gesine Lötzsch den Bundesregierungen der vergangenen 20 Jahre vor, viel getan zu haben, "um Zwietracht zwischen Ost und West zu säen". Alle Bundesregierungen hätten dafür gesorgt, dass "gut gebildete Ostdeutsche keine Chance bekommen, in dieser Gesellschaft wirklich aufzusteigen". Die Einheit sei erst erreicht, wenn es in Ost und West gleiche Renten, gleiche Löhne sowie die gleiche Anzahl von Kitaplätzen und von Polikliniken gebe. Dies strebe die Bundesregierung aber augenscheinlich nicht an. In den neuen Ländern lebten lediglich 15 Prozent der Bevölkerung, aber 34 Prozent der Hartz-IV-Empfänger: "Sie haben mit ihrer Politik aus Ostdeutschland ein Hartz-IV-Land gemacht, und das ist alles andere als eine gelungene deutsche Einheit", sagte Lötzsch.

"Erfolgsgeschichte"

Dagegen bewertete der FDP-Parlamentarier Patrick Kurth den zurückliegenden Einigungsprozess als "große Erfolgsgeschichte". Zu Recht werde in dem Jahresbericht davon gesprochen, "dass in den letzten 20 Jahren in Ostdeutschland ein kleines Wirtschaftswunder stattgefunden hat", sagte er. Gleichwohl seien "einige Probleme in Ostdeutschland sehr viel signifikanter als im Westen", wobei die Abwanderung "eines der größten Probleme" sei. Die dadurch entstehende Überalterung sei indes kein rein ostdeutsches Problem, sondern werde auch auf den Westen zukommen. Daher sei es wichtig zu wissen, dass im Osten erfolgreich praktizierte Konzepte auch für die Entwicklung im Westen Vorbild sein können.

Unions-Fraktionsvize Arnold Vaatz (CDU) warf die Frage auf, was gewesen wäre, wenn es statt der Wiedervereinigung für Ostdeutschland "so eine Art 'Österreich-Lösung'" gegeben hätte. So habe es in Polen 1990 ein ähnliches wirtschaftliches Niveau gegeben wie in der DDR. Sechs Jahre später habe das kaufkraftbereinigte Einkommen pro Haushalt in Polen etwa 4.200 Euro betragen und in Ostdeutschland 11.000 Euro, 2007 hätten die polnischen Haushalte im Durchschnitt 7.700 Euro und die ostdeutschen 15.000 Euro zur Verfügung gehabt, rechnete er vor. Dabei seien "unsere polnischen Nachbarn nicht dümmer oder fauler als wir", mussten aber "alles mit eigener Kraft machen, ohne durch eine Wiedervereinigung etwas abrufen zu können, wie wir es konnten".

Magdeburgs Regierungschef Böhmer ging in seinem Redebeitrag auch auf die vielzitierte "Mauer in den Köpfen" ein. Gelegentlich habe er den Eindruck, "dass wir Deutsche uns viel ähnlicher sind, als wir zuzugeben bereit sind", sagte Böhmer und führte als Beispiel die Frage an, "warum es in der DDR so viel Opportunismus gegeben habe". Er könne da "gar keinen großen Unterschied sehen, nur andere Ausdrucksformen", fügte der Ministerpräsident hinzu. "In einer Diktatur resultiert angepasstes Verhalten aus der Angst vor Nachteilen und einem Abstieg, in einer Wettbewerbsgesellschaft aus der Hoffnung auf Vorteile und einen Aufstieg. Das ist nicht das Gleiche, aber ein sehr vergleichbares menschliches Verhaltensmuster."