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Das Samariter-Dilemma

verschuldung Kai Konrad und Holger Zschäpitz plädieren für mehr Eigenverantwortung der Staaten

25.10.2010
2023-08-30T11:26:07.7200Z
4 Min

Im September 2017 findet im wiedererrichteten Berliner Stadtschloss das Herbsttreffen der Europäischen Wirtschaftsregierung statt, an dem Bundeskanzlerin Sahra Wagenknecht und Finanzministerin Andrea Nahles teilnehmen. Ziel ist die Abstimmung über die Haushalte der Mitgliedstaaten der Europäischen Föderation. Die hochverschuldeten Südländer wollen automa- tische Sonderzahlungen aus dem Solidaritätsfonds, also einen europäischen Finanzausgleich. Das ist eines der beiden Zukunftsszenarien, das die Autoren am Ende von "Schulden ohne Sühne?" entwerfen.

Das andere Extremszenario wäre aus der Sicht des Ökonomieprofessors Kai A. Konrad und des Wirtschaftsjournalisten Holger Zschäpitz das tröstlichere: Bundeskanzlerin Angela Merkel empfängt im September 2017 im Berliner Stadtschloss den US-Präsidenten Michael Bloomberg und den französischen Präsidenten Dominique Strauss-Kahn. Die EU hat zu einer rigorosen Stabilitätspolitik zurückgefunden, der Dominoeffekt nach der Griechenlandkrise blieb aus. Die Europäische Zentralbank (EZB) unter Präsident Axel Weber ist auf Geldwertstabilität ausgerichtet, der Euro hat den Dollar als Leitwährung ersetzt.

Beide Szenarien seien möglich, würden aber so wohl nicht eintreten, fügen Konrad und Zschäpitz hinzu. Vieles spreche aber dafür, dass die Politik den ersten Weg beschreiten werde. Warum das der falsche Weg ist, wird auf gut 200 Seiten sowohl in historischer als auch makroökonomischer Analyse hergeleitet. Das Thema des Buches ist der Zustand der Eurozone nach der Finanzkrise, am Scheideweg zwischen Schuldenfalle und Konsolidierungspfad. Zugleich ist es aber auch ein Buch über das Phänomen der Staatsverschuldung insgesamt.

Schlupflöcher

Die Autoren machen deutlich, dass die öffentlichen Haushalte der Staatengemeinschaft überdehnt sind - manche bis zum Zerreißen. Sie erklären, wie die Bundesrepublik, nach dem Krieg durch die Währungsreform praktisch schuldenfrei, in 60 Jahren Schulden von 1,8 Billionen Euro anhäufen konnte. Der Maastrichter Vertrag von 1992 zum Eintritt in die Europäische Wirtschafts- und Währungsunion hatte nicht die erforderliche disziplinierende Wirkung, denn seit 2002 verstieß Deutschland vier Mal in Folge gegen das Kriterium, dass die Neuverschuldung drei Prozent des Bruttoinlandsprodukts nicht übersteigen dürfe. Die angedrohten Sanktionen wurden nie angewendet. Mit der Schuldenbremse in der Föderalismusreform II von 2009 verengen sich zwar die Spielräume für Staatsausgaben, doch aus Sicht der Autoren bleiben Schlupflöcher.

Ist also schon Deutschland bei der Haushaltsdisziplin kein Vorbild, so verdüstert sich der Blick weiter, wenn die Situation einiger EU-Staaten betrachtet wird, zuallererst Griechenlands. Die Rettungsaktion der Staaten der Eurozone vom Frühjahr sehen Konrad und Zschäbitz im direkten Vergleich mit den Hilfen, die der Bund den notorisch klammen Bundesländern Bremen und Saarland zugestanden hat. Die Autoren sprechen vom Samariterdilemma: 1992 hatte das Bundesverfassungsgericht entschieden, dass die Bund-Länder-Gemeinschaft helfen muss, wenn sich ein Mitglied in einer extremen Haushaltsnotlage befindet.

In beiden Fällen hat sich die Haushaltslage durch üppige Sonderzahlungen nicht nachhaltig verbessert, resümieren Konrad und Zschäpitz. Warum? Weil andere für die Schulden aufkommen, bleibt für die Sünder der Kreditmarkt zu üblichen Konditionen offen. Diese Quelle würde erst versiegen, wenn durch die Einstandspflicht auch andere und in letzter Konsequenz alle Mitglieder der Solidargemeinschaft ihre Kreditwürdigkeit verlieren. Für die Autoren hat sich im Fall des Griechenland-Rettungspakets auf europäischer Ebene nur wiederholt, was sie auf Bundesebene das Saarland-Bremen-Syndrom nennen. Entweder kein Staat geht pleite oder alle Staaten der Eurozone gehen gemeinsam in die Insolvenz.

Eigenverantwortung

Was ist zu tun? Da wäre zum einen die Europäische Wirtschaftsregierung mit zentralisierter Finanz- und Haushaltspolitik ohne finanzielle Freiheit und Eigenverantwortung der Euro-Staaten. Als zweite Option wäre denkbar, eine Wirtschaftsregierung zu etablieren, die den Stabilitätspakt durchsetzt, was mit Souveränitätsverlust für Einzelstaaten verbunden sein könnte. Die Folge könnten Ausweichreaktionen der Betroffenen sein.

Konrad und Zschäpitz plädieren jedoch für nationalstaatliche Entscheidungsautonomie und Eigenverantwortung der Staaten. Erst dann wäre das Samariterdilemma ausgeräumt. Hilfsanreize müssten beseitigt werden.

Bewährt hat sich bei diesem sperrigen Thema, dass es von einem Wissenschaftler und einem Journalisten gemeinsam angegangen wurde. Die Griechenlandkrise wird eingebettet in eine historische und wirtschaftstheoretische Betrachtung der Staatschuldenproblematik insgesamt. Für den Leser bringt das einen Erkenntnisgewinn, der über eine bloße Darstellung der politischen Ereignisse weit hinausgeht.

Zugleich gelingt es Konrad und Zschäpitz, die komplexen Zusammenhänge anschaulich anhand von Beispielen transparent zu machen. Ein Krimi wird daraus zwar noch nicht, aber doch immerhin ein Buch, das man mit Gewinn auch zweimal liest. Und dabei denkt, dass es auch ganz anders kommen kann, dass es im Jahr 2017 die Europäische Föderation mit dem internen Finanzausgleich tatsächlich gibt. Mit einer Kanzlerin Angela Merkel und einem EZB-Präsidenten Axel Weber.

Kai A. Konrad, Holger Zschäpitz:

Schulden ohne Sühne? Warum der Absturz der Staatsfinanzen uns alle trifft.

Verlag C.H. Beck, München 2010; 240 S., 19,95 €