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Crash-Test im Bergischen Land

VOR ORT Getroffen, gestrauchelt, aber nicht untergegangen: Wie sich die Region Remscheid durch die Krise lavierte

25.10.2010
2023-08-30T11:26:07.7200Z
5 Min

Fast in jedem Auto steckt ein Stück Bergisches Land. Hier, zwischen Remscheid, Wuppertal und Solingen liegt eine Wiege der Industrie in Kontinentaleuropa. Einst wurden in Cronenberg und Remscheid Sicheln und Sensen geschmiedet, die Solinger waren berühmt für ihre Schwerter und Messer. Daraus hat sich eine Region der Metall-Kompetenz entwickelt. Autoteile gehören genauso dazu wie Werkzeuge und Maschinen. Der Rasierklingen-Hersteller Wilkinson sitzt in Solingen, die Werkzeughersteller Gedore und Hazet in Remscheid, Zangen-Weltmarktführer Knipex in Wuppertal. So ist das Bergische Land traditionell eine Industrieregion - der hemdsärmelige kleine Bruder der schickeren Rhein-Metropolen Köln und Düsseldorf, der anders als das Ruhrgebiet nicht mit Fördermillionen den Strukturwandel auffangen konnte und ihn dennoch ganz gut meisterte.

Doch dann kam die Finanz- und Wirtschaftskrise. Und der Absturz. Und die Krise hatte viele Gesichter. Beispielsweise die der Beschäftigen beim Automobilzulieferer Sona BLW Präzisionsschmiede in Remscheid. Noch bis weit in den Herbst 2008 hatte das Unternehmen volle Auftragsbücher. Die Mitarbeiter produzierten im Dauerbetrieb vor allem Getriebe und Achsteile. Kurz zuvor, im Januar 2008, hatte der indische Unternehmer Surinder Kapur die bisherige ThyssenKrupp Präzisionsschmiede mit drei Werken in Deutschland und einem in den USA übernommen. Der neue Investor sorgte in der Belegschaft für gute Stimmung, endlich sollte wieder investiert werden. Doch der weltweite Einbruch der Automobilproduktion machte den Arbeitern in Remscheid einen Strich durch die Rechnung.

Kampf um jeden Job

Zunächst sah alles gar nicht so schlimm aus. Im Oktober 2008 ließ die Werksspitze noch verlauten: Wir spüren den Rückgang, können damit aber gut umgehen. Es waren jede Menge Überstunden aufgelaufen, die Mitarbeiter konnten erst einmal ihre Zeitkonten abbauen. Doch schon über Weihnachten führte das Management verpflichtende Betriebsferien ein und meldete Kurzarbeit an. Nur wenige Monate später, im Frühjahr 2009, hieß es plötzlich: 200 von 660 Remscheider Sona-Beschäftigten müssten gehen.

"Die haben den Umsatzrückgang einfach in Köpfe umgerechnet, die sie entfernen wollten", erinnert sich Betriebsratschef Norbert Römmelt, "das ist ja wohl die einfallsloseste Methode, mit einer Krise umzugehen." Römmelt kämpfte damals auch noch an einer ganz anderen Front. Zu dieser Zeit war er zugleich Standort-Betriebsrat eines weiteren Unternehmens von ThyssenKrupp, nämlich für das Kurbelwellen-Schmiedewerk von ThyssenKrupp Gerlach. Ein Remscheider Unternehmen, aus dem Ende der 1970er Jahre noch jede zweite Kurbelwelle in deutschen Autos stammte. Später war Gerlach zum Konzern hinzugekommen. Nun, in der Krise, sollte die gesamte Produktion im saarländischen Gerlach-Standort Homburg konzentriert werden.

Römmelt gab nicht auf. Mit dem Inder konnte er sich einigen, mit dem deutschen Großkonzern jedoch nicht. Ende 2009 wurde die Pkw-Kurbelwellenschmiede mit 150 Beschäftigten in Remscheid aufgegeben. Viele Mitarbeiter waren 20, 30 oder 40 Jahre dabei - manchen gelang ein Neustart. Etwa dem einstigen Werkmeister Helge Petersen. Er hat mit seiner Abfindung eine Indoor-Mini-Golf-Anlage nahe des Werks eröffnet.

Der Belegschaft von Sona blieb damals das Schlimmste erspart. Managment und Betriebsrat setzten auf die Kurzarbeit. Niemand musste entlassen werden. Doch ohne die von der Politik schnell eingeräumten Erleichterungen bei der Kurzarbeit wäre das Wunder nicht gelungen. Und auch nicht ohne den indischen Eigentümer Kapur. Der ist in Bombays Bankenwelt hoch angesehen - was sich in der Krise als Glücksfall herausstellen sollte. Weil das Unternehmen damals dringend Liquidität benötigte, reiste der Finanz-Geschäftsführer Carl-Albert Petzoldt nach Bombay und sprach bei der ICICI-Bank vor. Bei deutschen Banken war damals in den Zeiten der großen Verunsicherung nichts zu holen. ICICI konnte helfen. Die indischen Banken hatten sich nicht an den Zockerspielen beteiligt und waren flüssig. Globalisierung umgekehrt: Ein Schwellenland rettet ein westdeutsches Industrieunternehmen. Bereits im vergangenen Herbst konnte Petzold deshalb Hoffungsvolles verkünden: "Wir sind aus dem Gröbsten raus." Betriebsrat Römmelt ist heute überzeugt: "Wären die Leute entlassen worden, wie zunächst geplant, hätten wir es nicht geschafft."

Zitterpartie bei Edscha

Eine ähnliche Zitterpartie musste die 260-Mann-Belegschaft des Automobilzulieferers Edscha in Remscheid durchstehen. 1870 dort gegründet, hatte sich Edscha zum Weltmarktführer entwickelt. In beinahe jedem Auto finden sich Scharniere und Türsysteme des Traditionsunternehmens. Doch all das sollte nicht helfen, für die Krise hatte das Unternehmen nicht genügend Reserven. Am 2. Februar vergangenen Jahres musste der Automobilzulieferer Insolvenz anmelden. Zu diesem Zeitpunkt arbeiteten rund 4.100 Beschäftgte weltweit für Edscha; 1.400 in Deutschland und davon wiederum ein Teil am Unternehmenssitz in Remscheid.

Edscha wurde neben Opel zum Symbol für die Krise der Automobilindustrie in Deutschland. Das traditionsreiche Unternehmen wurde in zwei Teile zerschlagen. Dabei gingen beide mit ihren neuen Eigentümern, Gestamp Automocion und Webasto, zurück in den Schoß zweier Familienunternehmen. Die Leidtragenden sind nun die mehr als 10.000 Gläubiger von Edscha - welche Quoten sie aus der Insolvenzmasse ziehen können, steht bis heute noch nicht fest. In Remscheid jedoch konnte man aufatmen: Die Mitarbeiter sind mit einem Schrecken davongekommen - entlassen wurde niemand.

Eine gute Nachricht für eine Region, die heftig unter dem langfristigen Strukturwandel leidet - noch verschärft durch die Krise: So halbierte sich die Zahl der Beschäftigten in der Industrie zwischen 1991 und 2009. So ist die Zahl der sozialversicherungspflichtigen Jobs im bergischen Städtedreieck in den vergangenen 18 Jahren um 26,4 Prozent gesunken, während ganz NRW "nur" ein Minus von 4,8 Prozent hinnehmen musste.

Wo so viele Jobs verloren gehen, Kaufkraft und Steuereinnahmen wegbrechen, wird auch in den Städten und Gemeinden die Krise sichtbar. Den Kommunen brach die Gewerbesteuer weg (siehe Artikel unten). Für dieses Jahr rechnet Remscheids Kämmerin Bärbel Schütte mit einem Loch in der Stadtkasse von 100 Millionen Euro - das wäre das schlechteste Jahr in der Geschichte der Stadt. Die Kommune nimmt mit gerade mal 35 Millionen Euro nur noch die Hälfte an Gewerbesteuer ein.

Und so muss Remscheid - genauso wie die Nachbarstädte - sparen: an Musikschulen, an Personal, an Bibliotheken, Theater, Schulen. Nebenan sind die von der Schließung bedrohten Wuppertaler Bühnen bundesweit zum Symbol für die Finanzkrise geworden. Die Stadt rechnet in diesem Jahr mit einem Defizit von 200 Millionen Euro, Solingen fehlen 90 Millionen Euro in der Stadtkasse.

Dort, im nahen Wuppertal, ist auch die Zentrale von Delphi beheimatet, einem Unternehmen, bei dem es neben Fertigung vor allem um Forschung und Entwicklung im Auftrag der Automobilindustrie geht. 1.100 Arbeitsplätze gehörten 2008 hier noch zur Firmengruppe. Doch in der Krise blieben die Aufträge weg, die Crash-Test-Dummies, die im Technology Center aus Testzwecken vor die Wand gefahren werden, blieben öfter im Wartestand. Allein mit Kurzarbeit konnte das Unternehmen die Durststrecke nicht meistern. 300 Arbeitnehmer bekamen im vergangenen Jahr die Kündigung. Keine Bank in Deutschland wollte Delphi einen Kredit einräumen. Schließlich sprang die Stadtsparkasse Wuppertal in die Bresche und stellte 125 Millionen Euro bereit, nachdem Länder und Bund eine Bürgschaft übernommen hatten. Heute sieht IG Metall-Bevollmächtigter Knut Giesler Delphi wieder eindeutig im grünen Bereich.

Für Jürgen Hardt (CDU), direkt gewählter Bundestagsabgeordneter der Region, hat sich die Industrie im Bergischen unter dem Strich als widerstandsfähig erwiesen. "In der Krise ist der hohe Exportanteil ein Problem gewesen, jetzt ist er von Vorteil", sagt Hardt und freut sich über das Anziehen der Weltkonjunktur.

Die Autoren sind Redakteure des

Remscheider General-Anzeigers.