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Seltsame Zwischenwelt

Koma Patienten nehmen mehr wahr als bislang gedacht

08.11.2010
2023-08-30T11:26:08.7200Z
3 Min

"Ein Artefakt der Medizin" nennt der belgische Neurowissenschaftler Steven Laureys das Koma. "Denn Patienten, die früher an Atemstillstand gestorben wären, können jetzt in so tiefer Bewusstlosigkeit überleben, wie man sie vor Erfindung der künstlichen Beatmung nie angetroffen hätte." Wer länger als eine Stunde nicht von selbst die Augen öffnet und auch sonst nicht auf äußere Reize reagiert, der liegt per Definition im Koma. Je weiter die technischen Möglichkeiten der Intensivmedizin fortschreiten, desto mehr Patienten entwickeln diesen Zustand. Im Moment sind in Deutschland jährlich rund 40.000 Menschen betroffen. Dennoch ist das Wissen darüber, was Komapatienten von ihrer Umgebung wahrnehmen können, mehr als lückenhaft.

Laureys, Leiter der Komaforschungsgruppe an der Universität Lüttich, will das ändern. Mithilfe moderner Verfahren untersucht er, welche Wahrnehmungen Komapatienten haben. "Um die Aktivität der Nervenzellen im Gehirn einzuschätzen, messen wir ihre Stoffwechselrate", sagt Laureys. "Wir sehen uns zum Beispiel den Verbrauch radioaktiv markierter Glucose im Positronen-Emissions-Tomographen an." Schon der Durchschnittswert dieser Messergebnisse ist verblüffend: Die Neuronen haben im Koma einen Energiebedarf von 50 bis 70 Prozent des Wachzustandes. Das heißt, dass entweder alle Nervenzellgruppen noch ziemlich aktiv oder zumindest einige Nervenzellgruppen sehr aktiv sein müssen. Und es stellt die tiefe Bewusstlosigkeit in eine Reihe mit dem tiefen Schlaf. Wie Laureys herausfand, sind fast ausschließlich die Regionen des Gehirns vom Koma betroffen, die andere Gehirnregionen miteinander verbinden. "Ohne sie verwandelt sich unser vielschichtig vernetztes Bewusstsein in ein für uns schwer vorstellbares Archipel einsamer Gedankeninseln, ohne Kontakt zueinander oder zur Außenwelt." Es könnte sein, dass am inneren Auge der Patienten Bilder ihrer Angehörigen vorbeiziehen, ohne dass sie die dazugehörigen Gefühle abrufen können. Oder es dringt ein Geräusch ins Bewusstsein, das nicht mehr ist als der bloße Ton, reine Wahrnehmung, ohne Möglichkeit, seine Bedeutung zu enträtseln.

Bei den klinischen Tests am Krankenbett zählt bislang nur das außen Überprüfbare, also ob ein Mensch gelegentlich wach wird und ob er sich dann seiner Umgebung gewahr ist. Wie lebendig die Innenwelt eines Menschen im Koma ist, konnten Ärzte bisher nicht überprüfen. Indem er systematisch Gehirnbilder unterschiedlich tiefer Komazustände sammelt und interpretiert, möchte Laureys die bisherigen Diagnosekriterien um ein Messprotokoll für die innere Aktivität ergänzen - und so fatale Fehldiagnosen, vor allem bei möglichen Kandidaten für passive Sterbehilfe, verhindern.

Liebevolle Ansprache

"Nur weil ein Mensch nach außen hin keine Reaktionen zeigt, heißt das nicht, dass er innerlich nichts mehr spürt", sagt auch Andreas Zieger. Der Neurochirurg leitet eine Station zur Frührehabilitation von Menschen mit Schädel-Hirn-Verletzungen am Evangelischen Krankenhaus Oldenburg. Auch nach seiner Erfahrung wäre es ein schwerer Fehler, Komapatienten das Bewusstsein abzusprechen. "Ich spreche lieber von so genannter Bewusstlosigkeit. Wie wäre es sonst zu erklären, dass sich der komatöse Zustand durch liebevolle Ansprache leichter bessert?" In den raren Fällen vollständiger Genesung kann jeder Zweite von Erinnerungen an die komatöse Zeit berichten - bisher von den meisten Wissenschaftlern als Halluzinationen aus der Aufwachphase abgetan. Zieger: "Diese Berichte müssen wir ernst nehmen. Menschen im Koma sind schwerstkranke, aber eben auch empfindende Menschen."

Die Autorin ist Wissenschaftsjournalistin in Hamburg.