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Unerfüllter Wunsch nach letzter Würde

Palliativversorgung 70 Prozent der Sterbenden fehlt angemessener Beistand

08.11.2010
2023-08-30T11:26:08.7200Z
6 Min

Bitte beeilen Sie sich!" Mit einem dramatischen Appell wendet sich der CDU-Abgeordnete Hubert Hüppe unterstützt von allen Fraktionen am 19. Juni 2008 an Länder, Krankenkassen, Ärzte, Pflegekräfte. Auf der Tagesordnung des Parlaments steht das Thema "Leben am Lebensende" - auf Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen (16/9442). Wer todkrank ist, soll seine letzten Tage gut versorgt zu Hause verbringen können, darauf gibt es seit April 2007 zwar einen Rechtsanspruch - doch bei der Umsetzung der so genannten spezialisierten ambulanten Palliativversorgung (SAPV) hakt es. "Und das bis heute", sagt die Vorstandsvorsitzende des Deutschen Hospiz- und Palliativverbandes (DHPV), Birgit Weihrauch. "Immer noch werden viele Menschen nicht erreicht. Die Betroffenen warten dringend auf den flächendeckenden Ausbau der ambulanten Versorgung, auch in den ländlichen Regionen."

Von den rund 800.000 Menschen, die in Deutschland pro Jahr sterben, benötigen Schätzungen zufolge zehn Prozent, also 80.000 Menschen, eine SAPV. Nach einem Bericht des gemeinsamen Bundesausschusses von Krankenkassen, Ärzten und Kliniken für das Bundesgesundheitsministerium (BMG) waren es mit Stand 30. September 2009 aber nur 2.614 Leistungsfälle. Vielen Todkranken bleibt also ihr letzter Herzenswunsch, zu Hause im Kreis ihrer Liebsten zu sterben, nach wie vor verwehrt.

Aufwändige Versorgung

Das hatten sich die Abgeordneten ganz anders vorgestellt, als sie mit der jüngsten Gesundheitsreform, angestoßen von der großen Koalition, im Jahr 2007 den Rechtsanspruch Sterbender auf SAPV im Sozialgesetzbuch verankerten. Anspruchsberechtigt sind Versicherte mit einer "nicht heilbaren, fortschreitenden und weit fortgeschrittenen Erkrankung bei einer zugleich begrenzten Lebenserwartung, die eine besonders aufwändige Versorgung benötigen", heißt es im Gesetzestext. Danach umfasst die SAPV ärztliche und pflegerische Leistungen einschließlich ihrer Koordination insbesondere zur Schmerztherapie und Symptomkontrolle.

Auch finanziell waren im Rahmen des Gesetzgebungsverfahrens deutliche Mehrausgaben kalkuliert worden: 80 Millionen Euro für 2007, 130 Millionen Euro für 2008, 180 Millionen Euro für 2009 und 240 Millionen Euro für das Jahr 2010. Die realen Ausgaben der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) lagen nach Angaben des DHPV weit darunter: 807.000 Euro im Jahr 2007, 1,95 Millionen Euro im Jahr 2008, 17,33 Millionen Euro im Jahr 2009. Im ersten Halbjahr 2010 wurden laut DHPV 14,07 Millionen Euro für die spezialisierte ambulante Palliativversorgung ausgegeben.

Der Präsident der Deutschen Gesellschaft für Palliativmedizin, der Göttinger Professor Friedemann Nauck, sieht in den Zahlen einen Beleg dafür, "welche Defizite in der Umsetzung und Finanzierung einer ausreichenden qualitativ hochwertigen und flächendeckenden Palliativversorgung bestehen". Das schätzt auch Birgit Weihrauch so ein, zumindest gebe es aber einen "stetigen Zuwachs der Ausgaben".

Dass es zu "Verzögerungen in der Startphase" gekommen sei, bestätigt auch die stellvertretende Sprecherin des GKV-Spitzenverbandes, Ann Marini. Gleichwohl rät sie, die Zahlen "erst nach einer längerfristigen Betrachtung und nach vollständigem Strukturaufbau" zu bewerten.

Spezialisierte Teams

Warum aber dauert es so lange, die vom Gesetzgeber gewollte Pflege Sterbender zu Hause zu organisieren? Zunächst definierte der gemeinsame Bundesausschuss erst im März 2008, ein halbes Jahr später als geplant, welche Leistungen zur Versorgung Sterbenskranker zu Hause erbracht werden sollen. Vorgesehen ist, dass sich auf Palliativmedizin spezialisierte Ärzte und Pflegekräfte mit Seelsorgern und Therapeuten sowie freiwilligen Helfer der ambulanten Hospizdienste zu Netzen (Palliative Care Teams) zusammenschließen und die Betreuung schwerstkranker Patienten übernehmen - auch rund um die Uhr. Bis Ende Juni 2008 dauerte es dann, bis die Verbände der Krankenkassen entschieden, welche Voraussetzungen die Palliativnetze erbringen müssen. Seitdem ringen Kassen mit Leistungserbringer um Verträge, Kostenerstattung und erforderliche Qualifikationen der Fachkräfte in den Palliative Care Teams. Nach Angaben des GKV-Spitzenverbandes sind inzwischen "mit rund 160 Leistungserbringer-Teams Verträge zur Umsetzung der SAPV geschlossen" worden.

Petitionsausschuss aktiv

Dem Bundestag geht das entschieden zu langsam. Erst am 17. Juni, hat der Petitionsausschuss die Krankenkassen eindringlich zum Abschluss der notwendigen Verträge für eine flächendeckende ambulante Palliativversorgung aufgefordert. Dieser Verpflichtung kämen die Kassen bislang "nur sehr zögernd" nach. Der Ausschuss überwies eine entsprechende Petition einstimmig dem BMG zur Erwägung, damit dieses "auf die Krankenkassen einwirkt, die mit dem Gesetz verbundene Absicht umzusetzen". Der politische Druck müsse "weiter hochgehalten werden". In diesem Zusammenhang weist der Ausschuss darauf hin, dass sich der Bundestag "ausdrücklich" die Möglichkeit vorbehält, "eine Ersatzvornahme durch das BMG gesetzlich" zu veranlassen.

Zum wiederholten Male hat auch der Gesundheitsausschuss des Bundestages die Umsetzung der SAPV thematisiert, jüngst in seiner Sitzung am 26. Oktober. Druck macht schließlich der interfraktionelle Gesprächskreis Hospiz des Bundestages. "Es nützt nichts, wenn die Leute einen Anspruch auf SAPV haben, die Leistung aber nicht einfordern können", kritisiert die SPD-Abgeordnete Marlene Rupprecht, die in dieser Legislaturperiode zusammen mit dem CDU-Parlamentarier Markus Grübel als Sprecher des Gesprächskreises fungiert. Auf Anregung des interfraktionellen Gesprächskreises finde nun am 12. November im Gesundheitsministerium ein Treffen aller Beteiligten statt, um nach Lösungsmöglichkeiten für die Probleme bei der Umsetzung der SAPV zu suchen.

Außerdem wird sich der Gesprächskreis in den nächsten Monaten intensiv mit den besonderen Bedürfnissen sterbenskranker Kinder beschäftigen. In diesem Bereich gebe es "noch viel zu tun", sagt Rupprecht.

Auf Platz acht

Insgesamt sind sich Abgeordnete, Verbände und Kassen jedoch einig, dass in den vergangenen Jahren für die Versorgung und Betreuung schwerstkranker Menschen viel erreicht worden sei. Im internationalen Vergleich liegt Deutschland bei der Qualität der Palliativversorgung nach einer im Juli veröffentlichten Studie der Economist Intelligence Unit im Auftrag der Lien-Stiftung (Singapur) auf Platz acht unter 40 Staaten, deutlich hinter Großbritannien, Australien und Neuseeland, aber vor Kanada, den USA und Frankreich.

Eine wichtige Grundlage für die Verbesserungen, darauf hatten bereits die Redner in der Bundestagsdebatte im Juni 2008 verwiesen, war der Zwischenbericht der Enquete-Kommission "Ethik und Recht der modernen Medizin" zur Verbesserung der Versorgung Schwerstkranker (15/5858). In diesem hat das vom Bundestag eingesetzte Expertengremium nicht nur eine Bestandsaufnahme zur Versorgung Sterbenskranker geliefert, sondern auch konkrete Empfehlungen für den Gesetzgeber erarbeitet. Von diesen sind inzwischen einige umgesetzt worden. So ist Palliativmedizin heute ein Pflichtfach im Medizinstudium. Außerdem ist die Finanzierung der ambulanten und stationären Hospizarbeit gesichert: Kranken- und Pflegeversicherung übernehmen etwa bei den stationären Hospizen 90 Prozent der zuschussfähigen Kosten. Seit gut einem Jahr sind die Patienten außerdem von einem Eigenbeitrag befreit. "Vor allem dies ist eine sehr wichtige Neuregelung für die Betroffenen", betont Birgit Weihrauch.

Debatte

Die wesentlichen Argumente für eine gute und flächendeckende Palliativversorgung trugen die Abgeordneten bereits in der Debatte am 19. Juni 2008 im Bundestag vor. Palliativmedizin und Hospizarbeit seien "für ein Sterben in Würde unverzichtbar", sagte die CSU-Abgeordnete Maria Eichhorn. Die Grünen-Abgeordnete Birgitt Bender gab zu bedenken, dass, "noch immer 70 Prozent der Menschen in Deutschland ihre letzte Lebensphase, oft ohne angemessenen Beistand, in Kliniken und Pflegeheimen" verbrächten, obwohl sich eine Mehrheit der Menschen wünsche, in ihrer gewohnten Umgebung und unterstützt von lieb gewonnenen Menschen zu sterben. Der FDP-Abgeordnete Michael Kauch sagte, für die Angehörigen sei die Sterbebegleitung ein zwar "schmerzlicher, aber auch ein bereichernder Punkt im Leben". Das habe er selbst erlebt. Doch oft sei das Sterben zu Hause nicht möglich, "weil die Familie überfordert ist oder es vielleicht gar keine Familie gibt". Deshalb sei es so wichtig, dass es die Hospizdienste - stationär, aber gerade auch ambulant - gebe und dass diese angemessen unterstützt würden.

Der SPD-Politiker Wolfgang Wodarg hob hervor, dass eine bessere ambulante Palliativversorgung sich auch volkswirtschaftlich rechne. "Wenn wir Menschen zu Hause lassen, wenn wir eine Krankenhauseinweisung vermeiden, dann sparen wir bei jeden Fall 20.000 bis 30.000 Euro", betonte er. Von diesem Betrag könne eine Pflegekraft ein ganzes Jahr lang finanziert werden.

Für die Fraktion Die Linke wählte Ilja Seifert einen grundsätzlichen Ansatz: Er halte es für wichtig, "dass wir überhaupt das Schweige-Tabu des Sterbens brechen". Kaum jemand wolle seinen Liebsten zumuten, dem Sterben beizuwohnen, sagte Seifert, um nach kurzer Pause zu fragen: "Ja, warum eigentlich nicht?"