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Das Gewissen entscheidet

BUNDESTAG Die letzten Fragen des Lebens zwingen die Abgeordneten zu zutiefst persönlichen Antworten

08.11.2010
2023-08-30T11:26:08.7200Z
5 Min

Für den deutschen Philosophen Johann Gottlieb Fichte war die Sache noch einfach: Das Moralische verstehe "sich von selbst", stellte er fest. Angesichts der neuen medizinischen Möglichkeiten unserer Zeit sind die Entscheidungsfindungen der Abgeordneten des Deutschen Bundestags weit weniger simpel. Antworten auf Fragen wie jene, wie es um die Ethik der Biomedizin steht; ob Forschungen, die es ermöglichen, über den Menschen selbst zu verfügen, eingeschränkt werden können oder müssen und innerhalb welcher Grenzen dies geschehen soll. Die Antworten auf diese Fragen formulieren sich eben nicht von selbst.

Intuition allein reicht hier nicht - vielmehr zwingen die immer neuen Fragestellungen die Parlamentarier dazu, sich von den eingefahrenen Mechanismen des politischen Entscheidungsprozesses zu lösen und für sich zu klären, was sie eigentlich für ethisch, moralisch und richtig halten - und dann entsprechend zu handeln.

Ungeschützte Lage

Abgeordnete sind Steuerzahler, Autofahrerinnen oder Verbraucher wie andere Menschen, sie haben auch Berufe und entstammen bestimmten Regionen wie alle anderen Bürger. Diese Eigenschaften prägen ihr politisches Profil - aber sie treten in vielen Fällen hinter parteitaktische Erwägungen und Überlegungen politisch-strategischer Natur zurück. Dagegen zwingen aber die Entscheidungen zu Fragen von Leben und Tod auch die Abgeordneten in eine ganz und gar ungeschützte Lage. In so gelagerten Auseinandersetzungen gewinnt die Entscheidung, wie man sich selbst verhalten würde, was für Normen man sich als Schutz und Stütze wünscht, welche Regelungen einem dagegen als beängstigende Bevormundung erscheinen, deutlich größere Bedeutung, als sie es bei der Diskussion von Themen wie Bundeswehrreform, Außenwirtschaftsgesetz oder auch Hartz IV haben, die ja durchaus auch umstritten, brisant und wichtig sind.

Öffentliche Anteilnahme

Im Deutschen Bundestag hat es in den vergangenen 20 Jahren einige Debatten gegeben, die sich mit grundlegenden Fragen der Grenzen und Möglichkeiten medizinischer Forschung und ärztlicher Behandlungen, aber auch mit der nach dem Beginn menschlichen Lebens auseinandergesetzt haben. Die Diskussionen darüber, wie schützenswert Embryonen sind, ob und unter welchen Voraussetzungen Abtreibungen straffrei sein sollen oder wie weit Patientenverfügungen Gültigkeit haben müssen, waren geprägt dadurch, dass sie in weitaus höherem Maße als viele andere Themen in der parlamentarischen Beratung auch über zeitlich weite Strecken auf öffentliche Anteilnahme stießen.

Der Bundestag hat diese Kommunikation zwischen Parlament und Gesellschaft gezielt befördert: Die seit dem Jahr 2000 zwei Legislaturperioden lang tätige Enquetekommission "Ethik und Recht der modernen Medizin" spielte hier eine herausragende Rolle. Dabei wurde in den vergangenen Jahren deutlich: Die Abgeordneten haben sich gegen alle Versuche gewehrt, dass über Themen wie Stammzellforschung, Gendiagnostik oder Sterbehilfe nur noch zwei Dutzend Experten ohne Mitglieder des Parlaments in einem "Deutschen Ethikrat" Stellungnahmen verfassen sollen.

So hatte es noch vor einigen Jahren Bundesforschungsministerin Annette Schavan (CDU) einrichten wollen - zu unbequem und sperrig waren der Regierung damals offenbar die Diskussionsergebnisse des Parlaments gewesen; die Entscheidungen in wichtigen ethischen Fragen sollten lieber an verlässlichere Gremien ausgelagert werden. Ohne Erfolg: Die Abgeordneten haben nicht zugelassen, dass Moral nur noch zum zugelieferten Produkt für den parlamentarischen Alltag wurde, sondern dafür gesorgt, dass ethische Grundsatzfragen einen Platz in der parlamentarischen Auseinandersetzung haben. Dass es zu einer Institutionalisierung eines solchen parlamentarischen Ethikgremiums in Form eines Ethikbeirates - bislang - nicht gekommen ist, mag damit zusammenhängen, dass die bioethischen Debatten ihre mobilisierende Wirkung jeweils aktuell entfalten; auf eine Weise, die sich offenbar jeder Festlegung entzieht.

Bioethische Debatten, wenn sie das Parlament erreichen, setzen dort regelmäßig eine Dynamik in Gang, die dazu führt, dass die Gepflogenheiten ausgesetzt werden und insbesondere die Fraktionsdisziplin für obsolet erklärt wird. Statt sich in die Rollen von Regierungskoalition und Opposition zu begeben und so dem politischen Diskurs eine vorgezeichnete Entwicklung mit einem - ab einem bestimmten Zeitpunkt - absehbaren Ergebnis zu geben, formieren sich die Abgeordneten in den bioethischen Debatten überwiegend in fraktionsübergreifenden Gruppen. Diese ändern - wie beispielsweise bei der Debatte um die gesetzliche Regelung der Patientenverfügung - bis zum Tag der Abstimmung oftmals ihre Größe und Zusammensetzung und versuchen, ihre Anträge mit anderen Gruppen abzustimmen oder mit diesen zu fusionieren. Zwar gibt es auch bei bioethischen Fragen Lager, diese sind aber weitaus beweglicher als die Fraktionen und nicht förmlich organisiert. In der Debatte über das Patientenverfügungsgesetz beispielsweise lässt sich auch im Nachhinein schwer ausmachen, wieso einzelne Abgeordnete sich für einen bestimmten Gesetzentwurf ausgesprochen haben.

Überzeugungsarbeit

Auch wenn sich bioethische Debatten in weitaus höherem Maße durch eine individuelle ethische und moralische Prägung der Teilnehmerinnen und Teilnehmer auszeichnen als andere parlamentarische Diskussionen: Es geht ihnen doch nicht in erster Linie darum, Betroffenheit zu artikulieren. Sie bleiben politische Auseinandersetzungen, die darauf zielen, Mehrheiten zu gewinnen - dafür sind auch hier Kompromissbereitschaft, taktisches Vorgehen und Überzeugungsarbeit vonnöten. Von einem Abschied von der Politik kann also in bioethischen parlamentarischen Debatten nicht die Rede sein. Das Politikverständnis ist in ihnen aber anders ausgeprägt. Es kommt in diesen Abstimmungen nicht darauf an, die Funktionsfähigkeit einer Koalition zu erhalten oder sich vom politischen Gegner abzugrenzen. Artikel 38 des Grundgesetzes, der festschreibt, dass Abgeordnete "an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen" sind, wird hier konsequent und kompromisslos umgesetzt. Nie ist der Abgeordnete freier als in seinen Entscheidungen zu den wichtigen ethischen Fragen - die Gewissensfreiheit in Gewissenfragen ist ein parlamentarisches Gut, das bislang nicht preisgegeben wurde.

Aber auch die bioethischen Debatten im Parlament entwickeln sich nicht alle gleich und sind schon gar nicht vorhersehbar. Während die Kontroversen bislang ihre Entwicklung mitten im Parlament genommen haben, hat sich in der Auseinandersetzung um die Präimplantationsdiagnostik (PID), also Gentests an im Reagenzglas erzeugten Embryonen, eher überraschenderweise Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) an die Spitze der Verbotsbefürworter gesetzt. Dass kurz darauf ausgerechnet die mit dem Thema befassten Bundesministerinnen Ursula von der Leyen und Kristina Schröder aus ihrer Partei einen anderen Standpunkt bezogen haben, während es im Parlament selbst noch keinen Gruppenantrag gibt, signalisiert einen anderen Ablauf als bislang. Auch das Bemühen der Regierungskoalition darum, im Verlauf weniger Wochen eine parlamentarische Entscheidung zu treffen, überlagert gegenwärtig noch die ethischen Inhalte. Es wird sich also erst noch zeigen, ob es auch dieses Mal gelingt, das zudem äußerst schwierige Thema in der Intensität und Offenheit der bisherigen bioethischen Debatten zu behandeln.

Der Autor ist Rechtsanwalt und Publizist in Hamburg.