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Schulnote sechs für Karsai

AUSWÄRTIGER AUSSCHUSS Experten kritisieren mangelnden Reformwillen der afghanischen Regierung

29.11.2010
2023-08-30T11:26:09.7200Z
3 Min

Auf den Konferenzen über die Zukunft Afghanistans im Frühjahr in London und im Juli in Kabul stand die Perspektive einer Übergabe der Verantwortung an die afghanische Seite im Mittelpunkt. Seither wächst die Ungewissheit über die weitere Entwicklung des Landes. Dies wurde auch bei einer Anhörung im Auswärtigen Ausschuss zum Thema "Kriterien zur Bewertung des Afghanistan-Einsatzes" am vergangenen Dienstag deutlich. In den Stellungnahmen der Experten überwog die Skepsis - vor allem in Hinblick auf den Willen und die Befähigung der Verantwortlichen in Kabul, selbst Mindestanforderungen an die Effizienz und die Legitimität ihrer Administration zu erfüllen.

Gäbe es Schulnoten für Präsident Karsais Bemühungen um eine bessere Regierungsführung, sagte Citha D. Maaß von der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) in Berlin, würde er die Note 6 erhalten. Exemplarisch seien die enge Verflechtung mit der Drogen- und Schattenwirtschaft und der Betrug bei den letzten Wahlen, mit deren Ergebnis sich der Westen abgefunden habe. Darin komme die alternativlose Bindung an Karsai zum Ausdruck, über den man inzwischen die Kontrolle verloren habe. Es sei damit zu rechnen, dass der Übergabeprozess die informellen Patronagenetzwerke des Präsidenten begünstigen wird. Deshalb könnten Reformen immer weniger durch die internationalen Geber, eingefordert werden, kritisierte Maaß. Sie plädierte dafür, den Schwerpunkt auf die Stärkung von innerafghanischen Reformkräften zu legen, die Veränderungen "von innen", also aus der afghanischen Gesellschaft heraus, einfordern könnten. Hierzu zählen infolge des Mangels an politischen Parteien junge Afghanen, wirtschaftlich überlebensfähige afghanische Nichtregierungsorganisationen, zivilgesellschaftliche Gruppen, aufgeschlossene Parlamentarier, aber auch traditionelle Autoritäten wie etwa reformorientierte Dorf- und Stammesälteste und Geistliche ("Reform-Mullahs").

Babak Khalatbari von der Konrad-Adenauer-Stiftung in Islamabad hielt die Übergabe der Sicherheitsverantwortung an die Afghanen im Jahr 2011 in bis zu zehn Provinzen für durchaus möglich. Wenig Positives konnte er der Idee abgewinnen, einen Fonds für integrationswillige Militante aufzulegen. Schon jetzt mache sich unter afghanischen Soldaten und Polizisten Unmut breit. Sie verstünden nicht, warum reumütige Islamisten mit finanziellen Anreizen bedacht werden, während Staatsdiener tagtäglich ihr Leben für ein Monatsgehalt von rund hundert Dollar riskierten. Maaß und Jan Koehler vom Osteuropa-Institut der Freien Universität in Berlin sehen den Zenit der Machtentfaltung der Taliban noch nicht überschritten. Die Regierungsgewalt, erklärte Koehler, reiche "von oben" kaum weiter als bis zur Distriktebene. Die Taliban gingen indes "von unten" über die Dörfer vor. Es reiche ein kurzer "Besuch", um danach wenige "Beobachter" zurückzulassen, die den erteilten Anordnungen an die Dorfbewohner Nachdruck verliehen. Der frühere Bundestagsabgeordnete Winfried Nachtwei verwies zudem auf das offenbar unerschöpfliche Reservoir der Taliban, deren Kämpfer immer jünger und immer radikaler würden und mit dem gesteigerten Operationstempo mithalten könnten. Zudem gebe es folgenschwere Koordinierungsmängel auf allen Ebenen: zwischen den bundesdeutschen Ministerien, den internationalen Akteuren und den militärischen und zivilen Kräften.

Übereinstimmend bewerteten die Experten die neue Strategie der "decapitation", also der Tötung oder Gefangennahme von Taliban-Kommandeuren durch Spezialkommandos, als kontraproduktiv. Damit würde nicht nur eine Vielzahl noch radikalerer Kämpfer "nachwachsen", sondern es kämen auch potenzielle Verhandlungspartner abhanden. Zudem stehe auch die Forderung an die Taliban, bei einer Machtbeteiligung eine gewisse "Rote Linie" - Verfassung, Menschenrechte, Rechte der Frauen - nicht zu überschreiten, inzwischen zur Disposition. Die Menschenrechte, betonte Jan Koehler, würden nicht nur von den Taliban, sondern auch von bedeutenden Kräften in Karsais Regierung in Frage gestellt.

Überfällige Evaluierung

Die von der Bundesregierung geplante Evaluierung des politisch-militärisch-zivilen Einsatzes in Afghanistan sahen alle Sachverständigen als überfällig an. Sie wiesen aber auch auf die erheblichen methodischen Probleme des von der Regierung vorgelegten Kriterienkatalogs hin. Ziel müsse eine möglichst objektive Bewertung der Ergebnisse des deutschen und internationalen Engagements und damit des Sinns des Einsatzes sein, betonten sie. Im Anschluss an die Anhörung besuchte der Oberkommandierende der Nato-Truppen in Afghanistan (Isaf), General David Petraeus, den Ausschuss zu einem informellen Gespräch, um für das weitere Engagent der Deutschen am Hindukusch zu werben. Einen allzu schnellen Abzug der Truppen stellte er während seines Berlin-Besuchs nicht in Aussicht: Auch wenn afghanische Kräfte bis Ende 2014 im ganzen Land für die Sicherheitsaufgaben verantwortlich sein könnten - eine Unterstützung für Afghanistan werde auch danach notwendig sein, betonte der General.