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»Das hat viele Nerven gekostet«

Hartz IV Die Sozialgerichte ächzen unter der Klagelast. Experten rechnen mit noch mehr Fällen, wenn die Reform in Kraft tritt

06.12.2010
2023-08-30T11:26:11.7200Z
5 Min

Drei Jahre hat Hans Gehrke (Name geändert) auf diesen Termin gewartet. Nun sitzt der Mittfünfziger im Verhandlungszimmer der 148. Kammer im Sozialgericht Berlin und versucht, Richter Stefan Langbein und den beiden ehrenamtlichen Richtern zu erklären, warum ihm 646,21 Euro zustehen. Im Januar 2008 habe das Jobcenter Berlin-Mitte diesen Betrag, sein Arbeitslosengeld II, nicht ausgezahlt, obwohl er schon seit Ende Dezember arbeitslos gewesen sei. Ein paar Stühle neben Gehrke sitzt der Vertreter des Jobcenters. Der verteidigt sich in steifer Behördensprache: Es sei ganz regulär nur ein "Aufstockungsbetrag zur Auszahlung gelangt".

Richter Langbein wälzt die Akte, befragt den Kläger geduldig und versucht zu errechnen, was Gehrke wirklich zusteht, ja, er seziert geradezu dessen damalige Lebenssituation. Sein Fazit: Das Jobcenter hat korrekt gehandelt. Mehr noch: Nach Aktenlage habe Gehrke schon früher einmal für zwei Monate lang zu Unrecht den vollen Regelsatzes ausgezahlt bekommen. Gehrkes Chancen, heute als Sieger den imposanten spätklassizistischen Bau an der Invalidenstraße zu verlassen, sinken auf Null. Langbein regt eine Klagerücknahme an. "Na gut", brummt der Kläger. Mittlerweile hat er wieder Arbeit, im Grunde will er nur die Bestätigung, dass er damals ungerecht behandelt wurde. Am Ende sagt er frustriert: "Es ist traurig, dass das Ganze so lange gedauert hat. Das hat mich viel Nerven gekostet." 10.07 Uhr, Langbein nickt mitfühlend und schließt nach 23 Minuten die Verhandlung.

100.000 Verfahren

Ein Verfahren weniger - doch in Berlin ist das ein Tropfen auf den heißen Stein. Die Hauptstadt ist die Hochburg der Hartz-IV-Bezieher und auch derer, die deswegen vor Gericht ziehen. Das 100.000. Verfahren seit Inkrafttreten des Hartz-Gesetzes vor fünf Jahren meldete das Berliner Sozialgericht erst vor Kurzem. Im Jahr 2005 klagten 7.000 Bezieher von Arbeitslosengeld II (Alg II) gegen Bescheide, im vergangenen Jahr waren es bereits 27.000. Rund 2.700 Hartz-IV-Klagen erreichten die Poststelle 2010 pro Monat, im Schnitt sind sie nach neun Monaten abgeschlossen. "Das Gesetz hat zu einer in der Geschichte der Sozialgerichtsbarkeit einmaligen Klageflut geführt", sagt Berlins Justizsenatorin Gisela von der Aue (SPD).

Auch die anderen Bundesländer ächzen unter der Last. Und die Situation könnte sich weiter zuspitzen. Landespolitiker und Sozialrechtler erwarten von Januar an eine weitere Flut von Klagen gegen die neuen Hartz-IV-Regelsätze. Hintergrund ist ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom Februar, in dem die Richter die geltenden Regelsätze für verfassungswidrig erklärt und Neuberechnungen gefordert hatten. Am vergangenen Freitag verabschiedete der Bundestag den schwarz-gelben Gesetzentwurf (17/3404, 17/3958), der vorsieht, dass der Regelsatz für Erwachsene von 359 auf 364 Euro im Monat steigt. Am 17. Dezember wird sich der Bundesrat mit Hartz IV befassen. Sollten die Länder das Gesetz blockieren, was als wahrscheinlich gilt, wird im Vermittlungsausschuss nach einem Kompromiss gesucht werden und sich das Inkrafttreten nach hinten verschieben. Neben den neuen Regelsätzen enthält das Gesetz ein Bildungspaket für Kinder, das Zuwendungen etwa für Nachhilfe, ein warmes Mittagessen, die Sportvereinsmitgliedschaft oder Schulausflüge vorsieht.

Zahlreiche Experten bezweifeln, dass die Regierungspläne den Anforderungen der Karlsruher Richter gerecht werden. Auf dem Deutschen Sozialgerichtstag in Potsdam vor zwei Wochen kritisierte Johannes Münder, Professor an der TU Berlin, das Bemessungsverfahren der neuen Regelbedarfe. Zwar sei deren statistische Ableitung aus dem Verbrauchsverhalten unterer Einkommensgruppen auf Grundlage der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe des Statistischen Bundesamtes nicht zu beanstanden, sagte Münder. "Verfassungsrechtlich problematisch" sei allerdings die Ermittlung der Referenzgruppe, da einige Personengruppen - wie etwa BAföG-Empfänger, bestimmte Empfänger von Leistungen für Asylbewerber und Personen, die trotz Bedürftigkeit keine Leistungen beantragt hätten, hiervon nicht ausgenommen worden seien.

Zudem beanstandete der Sozialrechtler, dass in einigen Bedarfsgruppen eine zu geringe Anzahl an Haushalten erfasst werde und damit keine belastbaren Aussagen zu den tatsächlichen Ausgaben getroffen werden könnten. Münder sieht daneben Fehler bei der Auswertung der erhobenen Daten. So habe man die Ausgaben von Pkw-Fahrern aus dem Bedarf herausgerechnet, ohne dafür ersatzweise Kosten für den öffentlichen Nahverkehr zu berücksichtigen. Große Probleme sieht der Experte zudem bei der Festsetzung der Regelbedarfsgruppen. So sei nicht nachvollziehbar, dass junge Erwachsene bis 25 Jahre geringere Leistungen erhalten sollen als Jugendliche im Alter von 15 bis 18 Jahren. Probleme werden nach Ansicht von Kritikern auch die zahlreichen unbestimmten Rechtsbegriffe im Regierungsentwurf bereiten. Sowohl Jobcentern als auch Gerichten bereite dies viel Arbeit und führe zu Rechtsunsicherheit.

Bildungsgutscheine

Auch die geplanten Bildungsgutscheine für Kinder kamen bei Münder nicht gut weg: Es sei nicht sichergestellt, dass in ländlichen Gebieten überhaupt Angebote für Nachhilfe oder Sport gemacht werden, kritisierte er. Nach dem Urteil aus Karlsruhe muss das Existenzminimum für Kinder vom 1. Januar 2011 an vollständig gewährleistet sein. Dazu gehöre auch der Bildungsbedarf der Kinder. Berlins Justizsenatorin von der Aue bezweifelt, dass es gelingen wird, die Sachleistungen des Bildungspakets bis dahin umzusetzen, ob nun als Gutschein oder durch Kostenübernahmeerklärungen. "Die Regierung provoziert eine neue Klageflut vor den Sozialgerichten", sagt sie.

Als weiteres Problem sieht von der Aue auch die schlechte Personalausstattung in den Jobcentern. Ein Punkt, den ebenfalls viele Richter kritisieren. Wegen der hohen Fluktuation der Mitarbeiter würden dort reihenweise fehlerhafte Bescheide erstellt und die Leistungsbezieher nicht ausreichend aufgeklärt werden, lauten Vorwürfe. Sie sind offenbar zumindest nicht aus der Luft gegriffen: Rund die Hälfte aller angefochtenen Bescheide werden deutschlandweit im Schnitt von den Sozialgerichten korrigiert.

Nach Ansicht vieler Behördenmitarbeiter sollte sich die Justiz allerdings an die eigene Nase fassen: Sie arbeite nicht schnell und nicht effizient genug, heißt es. Auch dieses Argument verfängt: Zwar haben alle Sozialgerichte in Deutschland neue Richterstellen geschaffen, dennoch können sie nicht Schritt halten mit den Eingangsstapeln aus der Poststelle. Richter Langbein etwa ist einer unter mittlerweile fast 70 Richtern, die sich am Berliner Sozialgericht ausschließlich mit Hartz-IV-Klagen befassen.

Hemmschwellen für den Gang zum Gericht gibt es kaum, denn für Kläger fallen keine Gerichtskosten an. Regelmäßig kommt es deswegen vor, dass wegen vermeintlicher Lappalien gestritten wird, sei es um ein paar Cent bei der Verrechnung von Einkommen mit dem Arbeitslosengeld oder bei der Höhe der Unterkunftskosten. "Die Erfahrung ist: Man versucht in jedem Fall eine Klage", sagt Sachsen-Anhalts Justizministerin Angela Kolb (SPD). Um die Klageflut einzudämmen, spielen einige Länder deswegen mittlerweile mit dem Gedanken, Gebühren an den Sozialgerichten einzuführen.

Im Alltag versuchen die Richter, die Arbeit auf ihre Art einzudämmen: Möglichst kein Urteil schreiben, heißt die Maxime. In vier von fünf Fällen gelingt das in Berlin, am größten Sozialgericht Deutschlands. Dann einigen sich die Parteien ohne Richterspruch. Im zweiten Fall, den Richter Langbein an diesem Morgen verhandelt, ist das keine Option. Ein junger Man hatte seine Ausbildung zum Kraftfahrer abgebrochen und bekam eine Sperre aufgebrummt. Nun sitzt er nervös im Gerichtssaal. Eine Besuchergruppe kommt, der Saal rappelvoll - und der Kläger betreten. Die eigene Lebensgeschichte vor Publikum auszubreiten, das ist ihm sichtlich unangenehm. Auf die Fragen des Richters nuschelt er und lächelt verlegen. Er wollte ja gerne weiterarbeiten, aber sein Arbeitgeber habe ihm keine richtigen Aufgaben gegeben, klagt er. Da blieb er weg - und kassierte eine Kündigung. Langbein und die ehrenamtlichen Richter heben den Sanktionsbescheid auf: Dem Kläger könne der Abbruch der Ausbildung "in Würdigung seiner gesamten damaligen Lebenssituation" nicht vorgeworfen werden, so ihr wohlwollendes Fazit. Wieder ein Fall weniger auf dem Tisch. Nur ein kleiner Trost, denn rund 38.000 Verfahren liegen bei Gericht noch in der Warteschleife.