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Wider das Wunschdenken

AFGHANISTAN Im zehnten Jahr des Militäreinsatzes zwingen die Realitäten zu neuem Handeln

13.12.2010
2023-08-30T11:26:11.7200Z
4 Min

Der Einsatz deutscher Soldaten in Afghanistan geht ins zehnte Jahr, und die Politik sucht nach Auswegen aus einem Unternehmen, das als "gescheitert" zu etikettieren sich niemand ernsthaft wünschen kann. Auf dem Lissaboner Gipfel stimmten die Nato-Partner einem militärischen Teilabzug der US- und ISAF-Truppen bis 2014 zu, mit dem Ziel, bis dahin der afghanischen Seite die Sicherheit des Landes und seiner Bevölkerung zu überantworten. Das immer wieder erklärte Ziel des deutschen Einsatzes - Rückkehr zur Stabilität für Afghanistan und befriedende Ausstrahlung auf die Region - scheint in weite Ferne gerückt, auch und gerade seitdem die Diskussion über einen Abzug offen geführt wird.

Auf Wikileaks kann man nachlesen, dass EU-Ratspräsident Herman Van Rompuy am 4. Januar dieses Jahres - noch als belgischer Regierungschef - dem US-Botschafter in Brüssel vertraulich zu verstehen gab, niemand in Europa glaube mehr an Afghanistan. Die Entwicklung hat einen Punkt erreicht, wo selbst der Mindestanspruch eines gesichtswahrenden Abzugs und einer Hinterlassenschaft, die sich wenigstens dem Terrorismus nicht mehr als erneutes Epizentrum feilbietet, in Frage steht.

Schattenverwaltungen der Taliban

Die Lage vor Ort ist verfahrener denn je. Verglichen mit der ersten Hälfte 2009 stiegen die gewaltsamen Zusammenstöße in der ersten Hälfte 2010 um über 70 Prozent, die Zahl der zivilen Opfer um ein Drittel. Die Verluste der Nato waren die höchsten seit Beginn der Kämpfe. Die Aufständischen verfügen über ein anscheinend unerschöpfliches Reservoir immer jüngerer und radikalerer Kämpfer aus den an Afghanistan grenzenden Stammesgebieten Pakistans. Sie sind in beinahe jedem Winkel des Landes präsent.

Die Regierungsgewalt reicht kaum weiter als bis zur Ebene der Distrikte, von denen Dutzende inzwischen fest in der Hand der Taliban sind, die "von unten" über die Dörfer vorgehen. In 33 von 34 Provinzen haben die Taliban Schattenverwaltungen etabliert. Sie setzen Gouverneure und Gerichte ein, erheben Steuern und treten als Schlichter in lokalen Streitfällen auf.

Hinzu kommt, dass die Drogenindustrie wie ein Krebsgeschwür von der Volkswirtschaft bis in die staatlichen Institutionen alle Bereiche der Gesellschaft durchdrungen und Afghanistan in eine Drogenökonomie verwandelt hat, mit der politische Entscheidungen der Regierung Karsai und ihres Patronagesystems untrennbar verwoben sind. Ursprünglich gehörte Afghanistan nicht zu den klassischen Produzenten von Opium und Heroin. Während seine Opiumproduktion 1971 auf 100 Tonnen geschätzt wurde, setzte sich das Land Mitte der Zweitausender Jahre mit jährlich rund 8000 Tonnen und einem Anteil von über 90 Prozent an die Spitze des globalen Drogenmarkts.

Korruption wird begünstigt

Mit seiner Bindung an Karsai ist Deutschland nolens volens in diese Widersprüche verstrickt. Nach mehr als 1,1 Milliarden Euro Hilfen bis Ende diesen Jahres stellt es für die nächsten drei Jahre noch einmal rund 1,3 Milliarden für Afghanistan bereit, wobei zusätzlich in den nächsten fünf Jahren 50 Millionen Euro de facto an Bestechungsgeldern für den neuen "Reintegrationsfonds" vorgesehen sind.

Es war indessen die Flut von Milliarden Dollar, die die Korruption in einem nie dagewesenen Maß begünstigte, das Netzwerk von korrupten Regierungsmitgliedern, gewaltbereiten lokalen Kommandeuren und Kriminellen fütterte und damit das Vertrauen der Bevölkerung in den Aufbau einer redlichen Verwaltung untergraben hat.

Positive Ergebnisse

Dabei verzeichnet das internationale Engagement seit 2001 durchaus positive Ergebnisse. Über 85 Prozent der Bevölkerung haben Zugang zu ärztlicher Hilfe, die Kindersterblichkeit sank um 22 Prozent. 90 Prozent der Kinder unter fünf Jahren sind gegen Kinderlähmung geimpft. Sechs Millionen Kinder, davon ein Drittel Mädchen, besuchen eine Schule - eine Steigerung um das Sechsfache. Die Stromversorgung hat sich verbessert, und über sechs Millionen Afghanen besitzen ein Mobiltelefon.

Von der jetzt verkündeten Exit-Strategie des Westens, die Taliban aufzureiben, Sicherheitskräfte aufzubauen und die Aufständischen in die Kabuler Zentrale zu integrieren, weiß niemand zu sagen, wieso Nato und ISAF in den nächsten drei Jahren schaffen sollten, was sie in den letzten neun Jahren nicht vermochten. Ein Zusammenbruch des Regimes ist bei schwindender Unterstützung von außen absehbar, ein Rückfall in den Bürgerkrieg oder eine Rückkehr radikalislamistischer Kräfte unter der Patronage des pakistanischen Militärs nicht ausgeschlossen. Sollten radikale pakistanische Dschihadis hier wieder eine Heimstatt finden, so wird das mit ein paar Schlägen aus der Luft mittels unbemannter Drohnen nicht zu bewältigen sein. Das Fatale bei der Suche nach einer Exit-Strategie bleibt, dass sie weder den Afghanen eine Perspektive, in Sicherheit und Frieden zu leben, bieten kann, noch den Sicherheitsinteressen dienen wird.

Psychologischer Druck

Die Deutschen, die einmal zu den beliebtesten Ausländern in Afghanistan zählten, laufen Gefahr, ihren guten Ruf zu verspielen. Deutschland wird kaum noch als Verbündeter der Bevölkerung, sondern fast nur noch als ausländische Kriegspartei wahrgenommen. Dabei wird in fast allen Debatten und Analysen ein wichtiger Umstand ausgeblendet: Die Menschen in Afghanistan sind Moslems. Sie lehnen vielleicht die radikale Ideologie der Taliban aus Pakistan ab, aber sie werden stets ausländische Truppen auf dem heiligen Boden des Islam überwiegend als Ungläubige und Besatzer ansehen denn als Freunde und Wohlgesinnte. Zum psychologischen Druck, der auf den Soldaten der Bundeswehr lastet, tritt hinzu, dass es an angemessener Ausrüstung und Bewaffnung fehlt.

Ob die Ankündigung von SPD-Fraktionsvize Gernot Erler, die Verringerung der deutschen Afghanistan-Truppe zur Vorbedingung für die Zustimmung seiner Partei zur Verlängerung des Mandats zu machen, den Königsweg aus dem Dilemma erschließt, sei dahingestellt. In jeden Fall sind Regierung und Bundestag am Donnerstag bei der Aussprache zur Regierungserklärung "Fortschrittsbericht Afghanistan 2010" gehalten, der Öffentlichkeit zu erklären, welche Perspektive der Einsatz noch hat. Auch die Soldaten, die ihr Leben riskieren, dürfen von der Politik eine Beurteilung der Lage erwarten, die auf der Wirklichkeit und nicht auf Wunschdenken beruht.