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»Weithin akzeptierte Form«

DIETER RUCHT Nach Ansicht des Berliner Protestforschers gelten Demonstranten längst nicht mehr nur als Querulanten.

03.01.2011
2023-08-30T12:16:34.7200Z
5 Min

Allerorten ist zurzeit von der Kluft zwischen Regierenden und Regierten die Rede. Ist diese tatsächlich tiefer geworden?

Das ist schwer zu sagen. Regelmäßig im selben Wortlaut gestellte Umfragen lassen ein sinkendes Vertrauen in Regierung und Politiker kaum erkennen. Fragt man allerdings nach konkreten Ereignissen, ergibt sich ein anderes Bild. Als wir anlässlich des geplanten Bahnhofs in Stuttgart die Menschen gefragt haben, ob sie glauben, es werde über sie hinweg regiert, sagte eine große Mehrheit: Ja! Eins steht in jedem Fall fest: In den Medien ist die Unzufriedenheit ein immer größeres Thema.

Die Proteste der jüngsten Zeit, allen voran der in Stuttgart, gaben ja auch reichlich Anlass dazu.

Auch für das Protestverhalten insgesamt gilt aber: Ob die Proteste oder lediglich das öffentliche Interesse an ihnen zugenommen hat, wissen wir noch gar nicht. Wir wissen nur, dass die mediale Aufmerksamkeit für Aktionen gegen Stuttgart 21 wie auch gegen die Verlängerung der Laufzeiten der Atomkraftwerke enorm ist. Und: Es wird sehr positiv berichtet - was wiederum einen verstärkenden Effekt für diese Protestbewegungen hat.

Stimmt denn die Annahme, dass sich in Stuttgart eine neue Qualität zeige: Statt der üblichen Verdächtigen gehe jetzt auch die bürgerlich-konservative Mittelschicht auf die Barrikaden?

Auch das ist nicht neu. In Stuttgart verdichtet sich nur eine seit Jahrzehnten anhaltende Entwicklung. Seit den 1970er und 1980er-Jahren haben Demonstrationen ihren Nimbus von Querulantentum und Staatsgefährdung immer mehr verloren. Sie sind eine weithin akzeptierte Ausdrucksform geworden - bis hinein in staatsnahe Berufe. Ärzte und Milchbauern tun ihren Unmut kund; sogar Polizisten. Schon vor 15 Jahren beteiligten sich Mitglieder einer Landesregierung, nämlich der bayerischen, an einer Demonstration gegen das Bundesverfassungsgericht. Das hatte zum großen Unmut der CSU geurteilt, religiöse Kreuze sollten auf Antrag aus den Klassenzimmern verschwinden. Dass ein Verfassungsorgan sich am Straßenprotest gegen ein anderes Verfassungsorgan beteiligt, wäre noch in den 1970er-Jahren undenkbar gewesen.

War Protest in Deutschland nicht schon immer eher bürgerlich? Auch 1968 gingen vor allem Studierende aus der Mittelschicht auf die Straße.

Im 19. und auch zunächst im 20. Jahrhundert war Protest durchaus eine Sache der unteren Schichten: Von den Bergarbeiterstreiks 1880 über die Demonstrationen zur Wahlrechtsreform bis in die Weimarer Republik gingen vor allem Arbeiter auf die Straße. 1968 protestierten zwar tatsächlich eher die Kinder der Mittelschicht. Aber anders als heute wollten sie nicht einen moderierten Dialog mit dem Staat führen oder ihren Status verbessern - sondern eine andere Weltordnung. Das hatte eine andere Qualität.

Welche Rolle spielen denn Parlamente bei Konflikten und Protesten?

Parlamente können Orte des Interessenausgleichs sein. Und sie sind es auch vielfach. Häufiger jedoch werden sie - teils zu Recht, teils zu Unrecht - als eine Bühne wahrgenommen, wo sich Politiker in Selbstdarstellungen gefallen und sich wechselseitig schlecht machen. Dazu trägt die Fixierung der Medien auf den Nachrichtenwert von Streit und Konflikt bei.

Parlamente reagieren häufig erst auf Proteste aus der Bevölkerung. Wie können sie dazu beitragen, Unzufriedenheit zu vermeiden?

Bei anhaltenden Polarisierungen und knappen Mehrheiten im Parlament wäre es denkbar, die Entscheidung dem Volk zu überlassen.

Woraus beziehen Bürgerinitiativen oder Demonstranten ihre Legitimation? Im Gegensatz beispielsweise zu Abgeordneten sind sie schließlich nicht gewählt.

Sie haben keinen Auftrag, die Interessen anderer zu vertreten und sind in diesem Sinne nicht legitimiert. Andererseits können solche Gruppen sehr wohl legitime Anliegen vortragen, sei es in eigener Sache oder im Sinne des Gemeinwohls. Dabei haben sie zuweilen sogar den Vorteil, dass sie von parteipolitischen und wahltaktischen Rüchsichten frei sind. Insofern können sie leichter unbequeme Fragen aufwerfen und über die nächste Wahl hinausdenken.

Wenn heute von einer "Dagegen-Republik" die Rede ist - war Deutschland in den 60er, 70er Jahren nicht viel mehr eine Dagegen-Republik? Auch von Seiten des Staates wurden die Auseinandersetzungen mit sehr viel mehr Härte geführt.

Das ist richtig; die Forderungen waren aber auch ganz andere: Weite Teile der Studentenbewegung wollten nicht allein mehr Mitbestimmung oder mehr Demokratie - sondern eine sozialistische Revolution im Schulterschluss mit den Befreiungsbewegungen der Dritten Welt. Heute steht das System nicht im Grundsatz zur Debatte. Sondern nur seine Ausgestaltung, manchmal auch nur der eigene Lebensstandard.

Gehen die Protestierenden heute aus egoistischen Motiven auf die Straße?

Eher nein. Aber solche Proteste gibt es natürlich: Wenn Bürger von Berlin bis München gegen Flugrouten oder gegen eine Müllverbrennungsanlage protestieren, schwingt der Gedanke "Macht das doch bitte nicht hier, sondern woanders" bei vielen mit. Den Bahnhofsgegnern in Stuttgart, aber auch den Anti-Atom-Protestlern, geht es jedoch nicht um persönliche Anliegen.

Eine andere gängige Annahme ist: In Stuttgart gehen Ältere auf die Straße als sonst.

Ältere ja - Alte nein. Die 45- bis 64-Jährigen sind deutlich überproportional vertreten; Jüngere eher seltener dabei. Außerdem ist ihr Bildungsgrad sehr viel höher als in der Gesamtbevölkerung. Wer glaubt, es seien besonders viele CDU-Wähler unter ihnen, irrt allerdings. Laut unserer Umfrage ordnen sich nur neun Prozent den Christdemokraten zu. Beinahe jeder zweite steht den Grünen nahe.

Sind protestierende Menschen in der Regel Nicht-Wähler?

Nein. Protestierende beteiligen sich im Allgemeinen in überdurchschnittlichem Maße an Wahlen. Dies zeigte sich zuletzt auch bei

einer Befragung der Demonstrierenden gegen Stuttgart 21.

Seit den Demonstrationen gegen den Einmarsch der USA im Irak im Jahre 2003 heißt es immer wieder, die Jugend werde politischer. Können Sie das bestätigen?

Mein Eindruck ist: Ja - und zwar nicht nur in Deutschland. Auch in Frankreich waren viele, die jüngst lautstark gegen die Erhöhung des Rentenalters protestierten, unter 25. Das war schon sehr überraschend.

Worauf führen Sie das zurück?

Es spricht viel für einen Zusammenhang mit den immer weiter um sich greifenden Zukunftssorgen. Ist mein Examen noch etwas wert? Komme ich in den Beruf, für den ich qualifiziert bin? Wie steht es um die Klimaerwärmung? All das sind Fragen, die Jugendliche sich stellen - und bei denen sie feststellen: So toll sieht es nicht aus. Also machen sie mobil. Immer nur eine Minderheit natürlich - aber das war ja schon so in der Studentenbewegung. Man mag im Rückblick einen anderen Eindruck haben. Aber die meisten Studenten haben 1968 nicht protestiert.

Welche Rolle spielen die neuen Medien für Protestbewegungen?

Ich glaube, sie werden grandios überschätzt. Natürlich ist das Internet ein hervorragendes Mittel, Informationen zu beschaffen und zu verbreiten. Aber zur Weckung von politischem Interesse taugt es nicht. Vor allem die ohnehin schon Interessierte nutzen es für politische Information und Aktion.

Das Interview führte Jeannette Goddar