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Lebensqualität neu bemessen

Zukunftsdebatte Enquete-Kommission des Bundestages will einen neuen qualitativen Fortschrittsbegriff erarbeiten

17.01.2011
2023-08-30T12:16:35.7200Z
4 Min

Wir müssen klären, wie sich Wirtschaftswachstum und Ressourcenverbrauch voneinander entkoppeln lassen": So formuliert Daniela Kolbe ein zentrales Anliegen der neuen Enquete-Kommission "Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität" des Bundestags. Die SPD-Abgeordnete, die als designierte Vorsitzende des neuen Gremiums bei dessen konstituierender Sitzung am 17. Januar an die Spitze des Ausschusses gewählt werden dürfte, gibt damit ein ambitioniertes Ziel vor: Bislang waren derartige Bemühungen nicht von großem Erfolg gekrönt. Für die meisten Bürger dürfte der Name der Kommission wenig griffig sein. Was steckt konkret dahinter? In einem vom Rat für Nachhaltige Entwicklung veröffentlichten Interview suchte Kolbe die Aufgabenstellung des Gremiums zu veranschaulichen: Der Ausschuss soll laut Auftrag das rein ökonomisch und quantitativ ausgerichtete Bruttosozialprodukt (BIP) als alleinige Messgröße für gesellschaftliches Wohlergehen weiterentwickeln und um soziale, kulturelle und ökologische Kriterien ergänzen.

Man wolle einen "neuen Indikator für gesellschaftlichen Fortschritt" erarbeiten, sagt die Parlamentarierin aus Leipzig: In die Messung des Wohlstands sollen anders als im BIP etwa auch die "Verteilung des Reichtums", der Lebensstandard oder das Bildungsniveau einbezogen werden. Die 30jährige kritisiert, dass im BIP die negativen Folgen des Klimawandels oder der Verknappung von Ressourcenvorkommen ausgeklammert würden.

Qualitatives Wachstum

Münden soll die Erarbeitung einer neuen Messmethode für Lebensqualität in die Skizzierung dessen, was als qualitatives Wachstum bezeichnet wird. Mit der Forderung nach qualitativem Wachstum machte der "Club of Rome" bereits 1972 Furore. Wissenschaftler erörtern dieses Problem seit langem. In einer Reihe von Staaten wird diese Diskussion auch auf der politischen Ebene geführt. So präsentierte 2009 in Frankreich eine von Präsident Nicolas Sarkozy eingesetzte Kommission Vorschläge für einen neuen Wohlstandsindikator: In dieses Kriterium sollen neben Einkommen und Konsum auch die Freiheit der politischen Betätigung, der Zugang zu Bildung, Freizeitmöglichkeiten, gesundheitliche Betreuung oder ehrenamtliche Arbeit einfließen.

34 Mitglieder

Nach dem Einsetzungsbeschluss des Bundestags sollen die 17 Abgeordneten und 17 Wissenschaftler mehrere Kriterien dahingehend prüfen, ob sie als Indikatoren für eine neue Messung von Lebensqualität taugen: Da geht es um die Verteilung des Wohlstands, Arbeitsqualität, die Lage von Natur und Umwelt, Lebenserwartung, Bildungschancen, materiellen Lebensstandard, soziale Sicherung oder die subjektive Zufriedenheit der Leute. Letzteres dürfte indes kaum zu messen sein: Zufriedenheit, gar Glück werden von den Bürgern subjektiv und damit höchst unterschiedlich definiert. Kolbe hebt im Übrigen hervor, dass das BIP keineswegs abgeschafft werden soll, sondern "weiterhin erhoben wird". Nach dem Enquete-Auftrag soll ein reformierter Fortschrittsindikator erarbeitet werden, der sich durchaus auf das BIP als Messgröße stützt, diese Kategorie jedoch modifiziert und durch neue Kriterien ergänzt.

Das BIP bildet, so die Kritik, Wachstum und Lebensqualität nur unvollständig oder verzerrt ab. So können Faktoren das quantitativ orientierte BIP steigern, die eigentlich Schäden anrichten und deshalb den Wohlstand verringern. Ein Beispiel ist die Explosion einer Ölplattform im Golf von Mexiko, die Milliardenschäden verursachte, wobei die enormen Summen, die für die Bekämpfung dieser Katastrophe ausgegeben wurden, als Investitionen statistisch das BIP der USA erhöhten. Wird eine neue Straße gebaut, so treibt dies die BIP-Raten nach oben, der Verlust von Natur fällt hingegen unter den Tisch. Als Steigerung des BIP fungiert auch die Beseitigung der Folgen von Autounfällen, obwohl diese ökonomische Werte vernichten und Kosten provozieren. China hat enorme BIP-Zuwachsraten, aber massive ökologische und soziale Verwerfungen bleiben außen vor.

Doch führt ein neuer Indikator bereits zu einer neuen Politik, zu mehr sozialer Gerechtigkeit, zu mehr kulturellen Angeboten, zu mehr ökologischer Nachhaltigkeit? Kolbe hofft, dass allein schon die auf eine breite Öffentlichkeit zielende Arbeit der Kommission ein "Umdenken in Politik und Gesellschaft" bewirkt.

Unterschiedliche Akzente

Die Einigung auf eine neue Messgröße dürfte im Übrigen nicht einfach werden. Zwar eint die Fraktionen die Forderung nach qualitativem Wachstum. Aber bei Regierung und Opposition klingen unterschiedliche Akzente an. So betont Georg Nüßlein (CDU(CSU), man wolle nicht die soziale Marktwirtschaft in Frage stellen, der Ausschuss dürfe sich nicht gegen den technischen Fortschritt stellen.

Für Hermann Otto Solms (FDP) sind die sozialen Folgen ökonomischer Stagnation schlimmer als jene des Wachstums. Man wolle der Skepsis gegenüber Fortschritt und Wachstum entgegentreten, das nicht zwangsläufig mit einem immer größeren Verbrauch von Ressourcen verbunden sein müsse. Die Linke wiederum will das "kapitalistische Wirtschaften" hinterfragen und auf Verteilungsgerechtigkeit pochen, erklärt die Abgeordnete Sabine Leidig. Grünen-Obfrau Kerstin Andreae hebt hervor, dass "Ressourcenverbrauch und Umweltzerstörung" auch "Wachstumshemmnisse" hervorrufen könnten: "Wir zerstören zu viele und erhalten zu wenige natürliche Lebensgrundlagen." In Entwicklungsländern dürfte man die hiesige Debatte nicht unbedingt verstehen: Dort wäre man eher froh, durch quantitatives Wachstum Armut mindern zu können. Kolbe weist denn auch darauf hin, dass ein höheres BIP vor allem in Industriestaaten nicht zu mehr Lebensqualität führe. Das gelte "aber nur für Gesellschaften mit einem hohen Lebensstandard".