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Der Diktator wankt - das Volk wird mündig

LIBYEN Fraktionen fordern Sanktionen gegen Gaddafi und ein Ende der Gewalt

28.02.2011
2023-08-30T12:16:37.7200Z
5 Min

Der Grüne Hans-Christian Ströbele brachte auf den Punkt, was wohl viele Parlamentarier bewegte: "Wir haben auf Potentaten gesetzt, weil wir dachten, Stabilität sei wichtiger als Menschenrechte." Nur selten sind sich die Fraktionen im Bundestag so einig wie in der Debatte am vergangenen Donnerstag zur Eskalation der Gewalt in Libyen. In einer aktuellen Stunde ließen es die Abgeordneten über die Fraktionsgrenzen hinweg an deutlichen Worten nicht fehlen: Einhellig forderten sie Sanktionen gegen das Regime und verurteilten das brutale Vorgehen Muammar al-Gaddafis gegen die eigene Bevölkerung scharf.

Gemeinsame Linie

Hinter den Kulissen rangen die EU-Staaten unterdessen um eine gemeinsame Linie. Am späten Freitagnachmittag einigten sie sich schließlich auf Sanktionen gegen Libyen. Neben einem Waffenembargo ist ein Lieferverbot für Güter geplant, die zur Repression eingesetzt werden könnten. Außerdem soll das Vermögen der Gaddafi-Familie eingefroren und ein Einreise sperre gegen sie verhängt werden. Parallel tagte am Freitag der UN-Sicherheitsrat, um über Sanktionen gegen das libysche Regime zu beraten. Zuvor hatte US-Präsident Obama Gaddafis Vorgehen als "abscheulich" bezeichnet. "Die Zeit der Appelle ist vorbei. Jetzt wird gehandelt", sagte Außenminister Guido Westerwelle (FDP).

Seit Tagen befindet sich Libyen in einem bürgerkriegsartigen Zustand. In mehreren Städten besetzten die Demonstraten die Zentralen, auf die Gaddafi seine Macht stützte: Geheimdienstquartiere, Regierungspaläste und das Gebäude des Allgemeinen Volkskongresses - das Parlament in Tripolis, das nach Augenzeugenberichten bereits am Montag in Flammen aufgegangen war. Weite Teile des Landes waren bis Freitag nicht mehr unter der Kontrolle Gaddafis. In der ostlibyschen Stadt Bengasi nahmen die Menschen nach dem Vorbild Ägyptens ihre Geschicke in Bürgerkomitees selbst in die Hand. Unterdessen schossen am Freitag regimetreue Milizen in Tripolis erneut auf Demonstranten.

Ein Land in Flammen

"An Sanktionen geht kein Weg vorbei", sagte der Staatsminister im Auswärtigen Amt Werner Hoyer (FDP) am Donnerstag als erster Redner der Debatte im Bundestag. "Wir sehen Verwüstung, Verzweiflung, Verletzte und unzählige Tote." Er hätte sich gewünscht, Europa wäre in seiner Antwort "schneller, deutlicher und geschlossener gewesen". Es sei bemerkenswert, dass der Weltsicherheitsrat der Vereinten Nationen, in dieser Frage eine klarere Positionierung vorgenommen habe, sagte Hoyer.

Hans-Christian Ströbele (Bündnis 90/Die Grünen) erinnerte daran, dass es Europa gewesen sei, das eben jenem Diktator Technik, Polizeihilfe und Waffen geliefert habe, der jetzt sein eigenes Volk "bombardieren und beschießen lässt." Neben Sanktionen müsse es nun darum gehen, desertierenden libyschen Soldaten Zuflucht zu gewähren und die Nachbarländer dabei zu unterstützen, Flüchtlinge unter "humanitären Bedingungen unterzubringen".

Mit drastischen Worten verurteilte Andreas Schockenhoff (CDU) das libysche Regime: "Diktator Gaddafi hat zur Ermordung der Demonstranten aufgerufen." Das Land stehe in Flammen, und das libysche Regime trage dafür die volle Verantwortung. Dies dürfe nicht ohne Folgen bleiben. Neben einer Sperrung der Konten der Gaddafi-Familie sei ein Mandat der Vereinten Nationen nötig, "um die Flüge nach Libyen zu unterbinden, mit denen Söldner ins Land gebracht werden", sagte Schockenhoff. Seine Fraktion stimme Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU) zu: "Wir sollten keine Flüchtlingsströme organisieren, sondern Aufbauhilfe leisten und Lebens-perspektiven in den Heimatländern bieten." Schockenhoff forderte zudem, dass Europa mit einer Stimme sprechen müsse. Die Nachbarschaftspolitik der EU müsse völlig neu überdacht werden. Um Flüchtlingströme zu verhindern, sollten die Ursachen der Migration bekämpft werden.

Verspieltes Vertrauen

Wolfgang Gehrcke (Die Linke) warnte vor der Einrichtung von Flugverbotszonen in Libyen. Wer in der jetzigen Situation über den Einsatz von Militär spekuliere, der "hilft der Familie Gaddafi bei der Durchsetzung ihrer Gewaltpolitik." Europa und Deutschland sollten sich in der aktuellen Situation für Flüchtlinge aus dem gesamten arabischen Raum öffnen, statt das Mittelmeer mit der europäischen Grenzschutzorganisation Frontex abzuriegeln. Zudem müsse Deutschland seine Waffenlieferungen sofort einstellen. Gehrke sprach vom Vertrauen, das die EU und Deutschland in Nordafrika durch ihren Pakt mit den Potentaten zur Abwehr der Flüchtlingsströme verspielt habe. Es könne jetzt nicht darum gehen, den Nordafrikanern Lektionen zum Aufbau der Demokratie zu erteilen. Umgekehrt könnten wir von Ägyptern und Libyern lernen "die ihren Kopf für die Demokratie - nicht für weise Ratschläge - hingehalten haben", sagte Gehrcke.

Gegen ein militärisches Eingreifen sprach sich der FDP-Abgeordnete Rainer Stinner aus: "Wer A sagt, von Völkermord spricht und sagt, man müsse dagegen etwas tun, der muss auch B sagen und erklären, woher er die Soldaten nehmen will", sagte Stinner und machte deutlich, dass er nicht bereit sei, über einen Bundeswehreinsatz in Libyen nachzudenken. Im Gegensatz zu Ägypten und zu Tunesien seien in Libyen keine Strukturen erkennbar, "in die sich etwas hineinentwickeln kann", die Lage sei "hochriskant". Ausdrücklich begrüßte der FDP-Abgeordnete, dass die Bundesregierung und ihr Außenminister "als erste europäische Führer deutliche Worte gefunden" hätten. Mittelfristig gehe es darum, eine neue Mittelmeerpolitik in Europa zu entwickeln, die sich nicht von "einem Klub von Ländern abhängig" machen dürfe, die ihre eigenen Interessen verfolgten, sagte Stinner im Hinblick auf Italien. Neben Malta und Zypern hatte sich Italien beim Treffen der EU-Innenminister am Mittwoch in Brüssel zunächst gegen Sanktionen ausgesprochen.

Die SPD-Abgeordnete Angelika Graf forderte, Italien mit den Flüchtlingen im Süden Europas nicht allein zu lassen. Europa müsse gemeinsam seiner Verantwortung gegenüber jenen Menschen gerecht werden, die es sich bisher "mithilfe von Gaddafi vom Hals gehalten hat". Ihr Fraktionskollege Rolf Mützenich warnte davor, die Flüchtlingsfrage zu dramatisieren und damit "ein falsches Bild von den Menschen zu zeichnen, die zurzeit versuchen, in ihrer Region, in ihren Ländern neue Gesellschaften aufzubauen". Libyen und seine Nachbarländer würden viel größere Probleme mit Flüchtlingen und Binnenflüchtlingen haben als Europa. Die Vorgänge in Nordafrika sollte Europa als Chance begreifen: "Die Demonstranten haben nicht gesagt, der Islam sei die Lösung für ihre Probleme, sondern sie wollen eine moderne, mobile, demokratische, freie Gesellschaft", sagte Mützenich.