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»Europa stärker vermitteln«

HANS-GERT PÖTTERING Für den früheren EU-Parlamentspräsidenten bleibt die Europäische Union trotz der Schulden- und Eurokrise eine Erfolgsgeschichte. Der…

28.02.2011
2023-08-30T12:16:37.7200Z
7 Min

Der Lissabon-Vertrag ist gut ein Jahr in Kraft. Die Europäer haben damals große Hoffnungen in das Vertragswerk, das die Europäische Union schlanker und effizienter machen sollte, gesetzt. Haben sich diese Hoffnungen erfüllt?

Der Vertrag von Lissabon ist ein Riesenerfolg für die Demokratisierung und die Parlamentarisierung der EU. Mit diesem Vertrag ist das Europäische Parlament in der Gesetzgebung nahezu gleichberechtigt mit dem Rat der Europäischen Union. Wir haben jetzt eine verfassungsmäßige Grundlage für die Gesetzgebung in der Gemeinschaft. Das ist der eigentliche Fortschritt durch den Vertrag von Lissabon.

Der Vertrag sollte das Subsidiaritätsprinzip stärken. Ist das der Fall?

Die Zeit für eine endgültige Antwort ist noch zu kurz. Durch die Neuregelung haben die nationalen Parlamente eine wichtige Aufgabe bei der Subsidiaritätskontrolle.

Haben die nationalen Parlamente wirklich gewonnen oder doch eher Befugnisse an die EU abgegeben?

Die Parlamente der EU-Hauptstädte sind gestärkt worden. Sie erhalten alle Konsultationsdokumente und Entwürfe von Gesetzgebungsakten zusammen mit dem EU-Parlament und dem Rat. Stimmt ein Gesetzesentwurf nicht mit dem Subsidiaritätsprinzip überein, so können sie das anmahnen. Die Hauptaufgabe der nationalen Parlamente in der europäischen Gesetzgebung besteht aber nach wie vor darin, ihre eigene Regierung, die ja über den Rat der Europäischen Union Gesetzgeber ist, zu kontrollieren.

Wer entscheidet denn, wann ein Gesetzesvorhaben national geregelt wird und wann in Brüssel europäisch?

Einen absoluten Maßstab gibt es nicht. Es bleibt eine Frage der politischen Beurteilung. Ein Beispiel, wo die europäische Ebene gewonnen hat, ist die Energiepolitik. Vor fünf, sechs Jahren hätte jeder noch gesagt, die Frage der Energieversorgung - die Energiepolitik - sei eine nationale Aufgabe. Nach der Unterbrechung der Gaszufuhr vor einigen Jahren durch Russland, hält jeder die Energieversorgung für eine strategische europäische Aufgabe. Die Frage, wann die EU zuständig ist, wann nationale oder regionale Ebenen, wird immer zu beantworten sein auf der Grundlage ganz konkreter Herausforderungen. Und diese ändern sich. Von Fall zu Fall kann es sinnvoll sein, auf EU-Ebene zu regeln. Es kann aber auch umgekehrt sein.

Gab es diese Fälle schon?

In der Agrarpolitik.

Weißrussland wird von einem Diktator regiert. In arabischen Staaten lodert das Feuer der Revolution. Mit welchen "Waffen" kann die EU vermitteln?

Unsere "Waffe" - wie im übrigen auch die der Konrad-Adenauer-Stiftung - ist der Dialog mit der Zivilgesellschaft. Wir haben bereits in den 70er Jahren die Zivilgesellschaft in Spanien und Portugal unterstützt. Die EU muss sich solidarisch zeigen mit Menschen, die friedlich für Freiheit und Demokratie eintreten. Das gilt auch für Tunesien und Ägypten. Alle Menschen in der arabischen Welt haben das Recht, in einer Demokratie, in Freiheit und Würde zu leben.

Warum haben wir nicht früher gemerkt, dass es in Tunesien rumort?

Ich habe meine eigenen Erfahrungen gemacht: Mein Koffer wurde zurückgehalten, der Gesprächstermin mit Präsident Ben Ali so lange hinausgeschoben, bis ich abgereist war. Ich hatte Kontakt mit Ehefrauen, deren Männer im Gefängnis saßen. Ich sprach mit NGOs. Wir haben diese Kontakte zur tunesischen Zivilgesellschaft immer gehabt. In diesem Land gibt es ja eine Besonderheit gegenüber anderen afrikanischen Gesellschaften: Die Menschen sind gut ausgebildet. Der Prozentsatz an Analphabeten ist gering. Unsere Aufgabe ist es nun, den Parlamentarismus zu unterstützen.

Ist Tunesien also eine "bürgerliche" Revolution gewesen?

Es sieht so aus. Eine Gefahr ist immer, dass Fundamentalisten nach der Macht greifen. Aber danach sieht es in Tunesien nicht aus.

Sehen Sie auch im Aufbruch in Ägypten einen Hoffnungsschimmer für die arabische Welt?

Wir wissen ja noch nicht, wo die Reise hingehen wird. Wenn es sich um eine Demokratisierung handelt mit einem Mehrparteiensystem, dann könnte das zum Modellfall für ganz Nordafrika werden.

Beziehungen mit autokratischen Staaten sind immer ein Balanceakt - auch und vor allem in der arabischen Welt. Gibt es da Grenzen?

Wir anerkennen Staaten, wir anerkennen im Prinzip nicht die Staatsform. Unser Ideal bleibt die demokratische Staatsform. Wo diese nicht verwirklicht ist, müssen wir mit unseren Mitteln des Dialoges - sowohl mit den Regierungen, aber vor allem mit der Zivilgesellschaft - versuchen, diesen Prinzipien Geltung zu verschaffen. Wenn wir Demokratie wollen, kann das auch bedeuten, dass Parteien mit starker moslemischer Motivation regieren. Das sollten wir nicht fürchten; wir sollten aber deutlich machen, dass der religiös begründete Terrorismus eine Pervertierung des moslemischen Glaubens ist und die meisten Opfer ja Moslems sind.

Zurück zur EU. Wir haben mit Kroatien bald 28 Mitglieder. Was verspricht sich die EU von der Erweiterung? Daran sind Staaten schon zugrunde gegangen.

Zuvor das: Die EU ist eine Erfolgsstory. Wer hätte 1979, als das Europäische Parlament zum ersten Mal gewählt wurde, zu hoffen gewagt, dass zehn osteuropäische Länder am 1. Mai 2004 der Europäischen Union beitreten? Es ist aber passiert, weil die Menschen in diesen Ländern die gleichen Werte für sich beanspruchen, die wir ganz selbstverständlich gelebt haben und leben: Würde des Menschen, Menschenrechte, Freiheit, Gleichheit - Rechtstaatlichkeit. Es war ein Sieg unserer Werte. Und jetzt zu den Herausforderungen: Was die Länder des Balkans angeht, so werden diese schrittweise, nach individueller Erfüllung der Anforderungen, aufgenommen. Was die Türkei angeht: Ihre Aufnahme würde die EU überfordern. Das ist meine Meinung.

Schrittweise Heranführung an die EU: Wie prüft man denn beispielsweise, ob die Korruption in Bulgarien ausreichend bekämpft wird?

Meine persönliche Wertung ist: Rumänien und Bulgarien wurden zu früh Mitglied der EU. Ich stelle das heute nicht mehr in Frage, aber daraus sind Konsequenzen zu ziehen. Unter anderem die, in Zukunft sorgfältiger hinzuschauen.

Wie?

Es darf keine politischen Gefälligkeitsentscheidungen mehr geben.

Schmerzt es Sie nicht, dass ausgerechnet so potente Länder wie die Schweiz und Norwegen nicht dazugehören und auch Großbritannien nur "halb" dabei ist?

Großbritannien ist schon voll dabei, es ist durch den Vertrag von Lissabon verpflichtet, europäisches Recht einzuhalten. Was Norwegen angeht, so ist das deren Entscheidung. Und wenn es mir beim Skilaufen im schweizerischen Zermatt zu viel wird, dann laufe ich auf die andere Seite nach Italien und bin wieder in der EU.

Mit den Balkanstaaten werden wir weiter wachsen - auf mehr als 30 Mitglieder. Ist das europäische Haus dann noch zu bestellen?

Diese Herausforderung haben wir ja heute schon mit 27. Für die europäische Gesetzgebung gilt, dass sich EU-Parlament und Ministerrat die Gesetzgebung teilen. Dies verwirklicht Demokratie in der EU. Eine andere Frage ist die der Außen- und Sicherheitspolitik, wo noch nach dem Prinzip der Einstimmigkeit entschieden wird. Aber auch dort kann man nach dem Lissabon-Vertrag heute schon zu Entscheidungen kommen, ohne dass alle einig sein müssen. Wenn eine Staaten-Gruppe vorangehen möchte, dann kann sie das tun. Beispiel: Die Anerkennung des Kosovo. Für Spanien eine Riesenherausforderung; es fürchtete, dass die Anerkennung des Kosovo den Regionalismus im eigenen Land stärken könnte. Dennoch haben die Spanier den Plan nicht aufgehalten, sondern die Anerkennung akzeptiert.

Die EU betont Bürgernähe und doch gelingt es ihr nicht, die Brücke zu den Menschen auf der Straße zu schlagen. Die Wahlbeteiligung bei den Europawahlen lag bei 43,3 Prozent.

Wir müssen Europa viel stärker vermitteln. Auch die Medien sollten sich mehr dem Erreichten zuwenden und nicht immer auf negativen Details herumhacken. Und ganz wichtig: Unsere nationalen Politiker dürfen den Schwarzen Peter nicht nach Brüssel schieben.

Für die Bürger ist es schwer, den Moloch Brüssel zu durchschauen. TV-Übertragungen aus dem Europäischen Parlament - Fehlanzeige.

Nur durch unser Parlaments-TV, in das sich jeder über Internet einklinken kann. Leider kommt von den großen Anstalten wenig.

Europa steckt in der Schuldenkrise. Außer Luxemburg erfüllt kein Land die Maastricht-Kriterien.

Wir müssen zur Drei-Prozent-Grenze zurückkehren. Auch müssen die Schuldenberge abgebaut werden. Maastricht erlaubt ja nur eine Gesamtverschuldung von 60 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Ich empfehle uns Deutschen übrigens, niemals zu vergessen, dass es im Jahr 2004 Deutschland und Frankreich waren, die verhindert haben, dass die EU-Kommission die "blauen Briefe" verschickte. Ausgerechnet an die beiden größten Länder der EU. Sie haben als erste den Vertrag von Maastricht verletzt. Da darf man sich nicht wundern. Das Ziel muss jetzt Rückkehr zur soliden Haushaltspolitik heißen.

Aber Deutschland und Frankreich waren doch nur deswegen die einzigen, weil die anderen geschummelt haben.

Aber auch wir sind Sünder.

Der Stabilitäts- und Wachstumspakt soll nun verschärft werden. Was nützt es, wenn keine Sanktionen folgen?

Durch die Wirtschafts- und Währungskrise haben alle den Wert der Stabilitätspolitik erkannt. Auch der französische Präsident, der lange die Politik der Europäischen Zentralbank für zu strikt erachtete. Wir brauchen eine Stabilitätskultur; wir brauchen eine stabile Währungsunion, die durch eine Koordinierung der Wirtschaftspolitik ergänzt werden muss. Die Arbeiten daran beginnen.

Chance durch Krise?

Ja. Das war in der europäischen Einigungspolitik immer so.

Das Interview führten Sabine Seeger und Knut Teske