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»Mit einer Stimme sprechen«

GÜnter Gloser Jubel über die Revolutionen in Nordafrika reicht nicht, findet der SPD-Politiker. Man muss die Menschen dort unterstützen

28.02.2011
2023-08-30T12:16:38.7200Z
5 Min

Herr Gloser, man hat in den letzten Tagen manchmal den Eindruck, dem libyschen Machthaber Gaddafi sei das eigene Volk egal. Ihr Kommentar?

Wer auf die eigene Bevölkerung schießen lässt, wer Söldner bestellt und Menschen töten lässt, den kümmert das Wohlergehen seiner Bevölkerung nicht. Diese Taten bezeugen die Brutalität des Staatschefs Gaddafi und der libyschen Führung. Dem Generalsekretär der Arabischen Liga ist völlig zuzustimmen, wenn er sagt, die Forderungen der arabischen Völker nach Reform, Elitenwechsel und Veränderung seien legitim. Libyen ist Mitglied der Vereinten Nationen und hat als Unterzeichner der UN-Menschenrechtskonvention deren Verpflichtungen auch gegenüber der eigenen Bevölkerung einzuhalten.

Wie sind die Vorgänge einzuordnen?

Wenn man die Situation in den verschiedenen Ländern betrachtet, in denen jetzt Unruhen herrschen, sieht man, dass die Rahmenbedingungen sehr unterschiedlich sind. Was die gesellschaftliche Struktur, beispielweise in Tunesien angeht, ist die Situation anders als in Libyen. In Tunesien haben im Vergleich zu vielen anderen arabischen Ländern die Menschen eine gute Ausbildung. Es gab und gibt auch weiterhin eine Mittelschicht, die in anderen Ländern, in dieser Form überhaupt nicht existiert. Insofern ist auch die Art und Weise, wie sich jetzt der Umbruchprozess gestaltet, in jedem Land eine andere.

Die EU tut sich schwer mit den Ereignissen in Nordafrika...

Als die Revolution in Tunesien begonnen hat und dann ihre Fortsetzung in Ägypten fand, habe ich mich über die Sprachlosigkeit der EU gewundert. Ich hatte gehofft, dass nach dem Lissabon-Vertrag ein deutlich sichtbares Zeichen europäischer Handlungsfähigkeit gesetzt werden würde. Die Bürgerinnen und Bürger erwarten bei diesen Umwälzungen, dass die EU mit einer Stimme spricht! Ich habe bedauert, dass die EU bei diesem Thema anfangs in verschiedene Lager zerfallen ist.

Glauben Sie, dass man Flüchtlinge - jetzt speziell aus Libyen, aber auch aus den anderen Staaten Nordafrikas und des Nahen Ostens, in denen der Umwälzungsprozess noch nicht abgeschlossen ist - jetzt leichter in die EU lassen sollte?

Vor allem müssen die Verantwortlichen in diesen Ländern jetzt ihren Bürgerinnen und Bürgern Perspektiven aufzeigen. Also: Wann finden freie Wahlen statt, wann wird ein Parlament gebildet, wie kommt die wirtschaftliche Entwicklung voran. Das geht jedoch nicht von heute auf morgen und wird möglicherweise viele Menschen nicht zufrieden stellen. Diese werden sich aufmachen wollen, doch bei jedem einzelnen Flüchtling sollte geprüft werden, aus welchem Grund er gekommen ist. Auf Seiten der EU ist jetzt ein Strategiewechsel bei der Flüchtlings- und Integrationspolitik notwendig.

Glauben Sie an einen Domino-Effekt in Nordafrika, dass jetzt ein Staat nach dem anderen im Nahen Osten demokratisch wird?

Meines Erachtens ist das ein falscher Begriff. Von Tunesien ausgehend hat eine Bewegung in vielen Ländern stattgefunden. Auslöser waren die soziale Perspektivlosigkeit vor allem vieler junger Menschen und die fehlende politische Teilhabe. Das heißt keine freie Meinungsäußerung oder Möglichkeit, sich frei politisch zu organisieren. Aber natürlich sind die Verhältnisse in den Ländern unterschiedlich. Daher will ich nicht von einem Domino-Effekt sprechen.

Haben Sie Sorge, dass die Stimmung umschlagen könnte, falls die Demokratiebewegungen ihre Ziele nicht erreichen können?

Die schwierigste Zeit ist die Zeit nach der Revolution: Tunesien und Ägypten unterscheiden sich wie gesagt. In Ägypten versucht man über eine vorübergehende Herrschaft des Militärs verschiedene Initiativen zu ergreifen, damit hoffentlich freie, demokratische Wahlen stattfinden können. Anders ist die Sitation in Tunesien. Dort herrscht großes Misstrauen, die Akteure könnten das Rad der Revolution zurückdrehen. In absehbarer Zeit müssen die Regierungen ihrer Bevölkerung die nächsten Schritte aufzeigen. Sonst könnte es passieren, dass die Menschen wieder unruhig werden, weil sie keine wirtschaftlichen und sozialen Perspektiven sehen. Es bestünde die Gefahr, dass sie möglicherweise anderen politischen Parolen folgen, die vordergründig etwas versprechen, aber gar nichts halten.

Was kann Europa und vor allem Deutschland tun?

Wir müssen uns klar machen, dass wir eine Verantwortung für diese Region haben, die zwei, drei Flugstunden von uns entfernt ist. Es reicht nicht aus, nur den Revolutionsakt zu begrüßen und zu bejubeln, sondern das heißt eben auch Unterstützung für die dortige Bevölkerung. Das muss auch unserer eigenen Bevölkerung vermittelt werden.

Wie kann eine solche Unterstützung aussehen?

Die EU könnte den Binnenmarkt auch für Produkte, für Dienstleistungen aus diesen Ländern öffnen, also Handelshemmnisse abbauen. Es kann nicht sein, dass wir zwar unsere Produkte und Dienstleistungen dorthin liefern, aber es umgekehrt erhebliche Einschränkungen gibt. Zweitens muss man deutsche Unternehmen ermuntern, trotz mancher Schwierigkeiten, die jetzt im Umbruch entstanden sind, zu bleiben, zu investieren, damit zumindest diese Perspektive erhalten bleibt. Es muss deutlich werden, dass wirtschaftliche und soziale Entwicklung erfolgt und bei den Menschen ankommt.

Was meinen Sie damit?

Ich meine beispielsweise den Tourismus. Es ist ganz wichtig, dass dieser wieder entsprechend aufleben kann, weil er ein ganz wichtiges Standbein für beide Länder ist. Man muss zusätzlich überlegen, ob gut ausgebildeten Leuten temporär die Arbeitsmigration nach Europa ermöglicht werden kann. Das heißt nicht, dass wir die gut Ausgebildeten aus Tunesien oder Ägypten abwerben wollen. Ich glaube aber nicht, dass der dortige Arbeitsmarkt so schnell wieder in Schwung kommt, dass das allein die Probleme lösen kann.

War es richtig, dass sich Europa mit mehreren Millionen Euro jahrelang Ruhe erkauft hat?

Wir haben versäumt, auf die Einhaltung gemeinsamer Vereinbarungen, etwa denen des Barcelona-Prozesses, zu drängen, welche die Staatsregierungen des Südens mit unterschrieben haben. Ich muss aber gegenüber Kritikern auch sagen, dass es hier bei uns Situationen gegeben hat, wo wir als Politiker gemeinsam mit den Verantwortlichen des Südens zusammenstehen mussten, zum Schutz unserer eigenen Bevölkerung. Das war nach dem 11. September 2001 der Fall, oder nach dem Anschlag in Djerba 2002. Wir dürfen auch nicht vergessen, dass die vermittelnde, zielführende Rolle Ägyptens im Konflikt des Nahen und Mittleren Ostens eine Rolle gespielt hat. Nur haben wir das in den Vordergrund gestellt, alles andere zu wenig beachtet.

Deutschland hat ja eine spezielle Verantwortung für Israel. Wie gefährlich können diese neuen Verhältnisse für Israel werden?

Es gibt Zeichen aus Ägypten, die eingegangenen Verträge mit Israel einzuhalten. Aber auch auf der anderen Seite erwarte ich in dieser jetzt sehr sensiblen Situation vertrauensbildende Maßnahmen. Israel trägt in dieser Zeit des Umbruchs Mitverantwortung. Ganz konkret gesprochen: Ich erwarte von Israel einen Siedlungsstopp. Die Zeit der doppelten Standards ist vorbei.

Das Interview führten

Sibylle Ahlers und Bernard Bode.

Günter Gloser (61) ist Mitglied des Auswärtigen Ausschusses und Vorsitzender der

deutsch-maghrebinischen Parlamentariergruppe. Er ist seit 1994

Mitglied des Deutschen Bundestages. Von November 2005 bis Oktober 2009 war Gloser Staatsminister im Auswärtigen Amt. Mitglied der SPD ist er seit 1969.