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Die selbstherrliche Regierung

BUNDESTAG Die Regierungspolitik macht einen großen Bogen um das Parlament. Das muss sein Selbstwertgefühl wiederfinden

11.04.2011
2023-08-30T12:16:41.7200Z
6 Min

Auf der Titelseite der italienischen Tageszeitung "Il Secolo XIX" aus Genua fand sich eine Karikatur über die Eskapaden des Cavaliere Berlusconi: "Der Kaiser ist nackt", sagt da der eine. "Mit wem diesmal?", fragt daraufhin der andere. Die Italiener haben, wie man sieht, eine frivol-abgeklärte Art, mit der Affäritis ihres alternden Regierungschefs umzugehen. In deutschen Kommentaren gilt die Causa Berlusconi als Exempel für die Verkommenheit der dortigen Demokratie. "Das wäre bei uns nie und nimmer möglich", heißt es sogleich, wenn hierzulande die Rede darauf kommt; und das ist zweifellos richtig.

Gleichwohl ist der deutsche Blick auf Italien durchaus selbstgerecht. Tendenzen der Entdemokratisierung gibt es hierzulande nicht zu knapp; diese haben freilich sehr viel weniger Erregungspotential als in Italien. Die deutsche Demokratie leidet, zumal seit der großen Wirtschaftskrise, an Entleerungsgefahr. Die Selbstherrlichkeit der Exekutive, also der Regierung, hat zugenommen. Der Einfluss des Parlaments, des zentralen Orts der Demokratie, nimmt ab. Der Bundestag schluckt, was ihm von der Bundesregierung vorgesetzt wird, so es ihm überhaupt vorgesetzt wird. Rettungsschirme für die Banken und den Euro werden außerhalb des Parlaments aufgespannt und dann allenfalls zur Besichtigung schnell durchs hohe Haus getragen.

Das Parlament, das einst bei Gesetzen jeden Pfennig und jeden Cent umgedreht hat und dem jeder Gesetzentwurf mit einem eigenen Abschnitt zu den "Kosten" vorgelegt werden muss, hakt seit 2009 die Multi-Milliarden-Aktionen der Kanzlerin, der Finanz- und der Wirtschaftsminister ab, als handele es sich um eine Durchführungsverordnung zum Einkommensteuergesetz. Die Verschiebung des politischen Gewichts von der ersten Gewalt auf die zweite hat in existentiellen Fragen dramatische Ausmaße gewonnen. Jüngst warb die Bundeskanzlerin in der Euro-Zone für den "Pakt für Wettbewerbsfähigkeit". Die Abgeordneten erfuhren davon aus der Zeitung. Verfassungsrechtler sprechen von einer Marginalisierung des Parlaments.

Sehnsucht nach Alexander-Politik

Natürlich: Die Regierung muss in Notlagen schnell und effektiv handeln. Die Krise ist, so heißt es, die Stunde der Exekutive; und das ist auch richtig so: Die Flutkatastrophe von Hamburg im Jahr 1962 hat aus dem damaligen Innensenator und späteren Bundeskanzler Helmut Schmidt (SPD) einen Helden gemacht. Er hat in den Tagen der Not zupackend umsichtig gehandelt, dabei nicht jedes Gesetz einhaltend. Aber die Stunde der Exekutive dauerte nicht Monate oder Jahre wie jetzt bei der Finanz- und Eurokrise. Das Gefährliche an der Selbstherrlichkeit der Exekutive ist, dass sie einer Sehnsucht nach Alexander-Politik entgegenkommt, die den gordischen Knoten mit einem Schlag durchhaut. Demokratie ist aber nicht das Zerhauen von Knoten, sondern ein mitunter sehr mühseliges Aufdröseln, ein langes Zupfen und Ziehen. Der Ort dafür ist das Parlament.

Das Parlament wird von der Regierung nicht mehr ernst genommen; manchmal nimmt es sich selbst nicht mehr ernst. So war und ist es seit langer Zeit bei den Anti-Terror-Gesetzen. So war und ist es bei den EU-Gesetzen und Verträgen. So war und ist es bei den Auslandseinsätzen der Bundeswehr; hier mussten Parlamentarier gar ihre Zustimmungsrechte erst einmal im Wege der Organklage beim Bundesverfassungsgericht erstreiten.

So war es auch 2006 bei der Föderalismusreform, als der Bundestag die umfangreichste Änderung des Grundgesetzes, die es je gegeben hat, einfach abnickte. Es war dies zu Zeiten der Großen Koalition: Der Bundestag fügte sich in das, was außerhalb des Bundestages ausgehandelt worden war. Der Bundestag, so wollte es die Föderalismusreform unter anderem, sollte auf jeglichen Einfluss in der Schul- und Bildungspolitik verzichten. Er hat es getan. Je größer die Reform, umso kleiner die Rechte des Gesetzgebers? Dem Bundestag wurde diese Großreform geliefert wie eine Tiefkühlpizza: Er sollte sie warm machen und konsumieren. Er hat es getan.

Die Selbstherrlichkeiten der Regierung sind mit der Großen Koalition nicht zu Ende gegangen, im Gegenteil. Die Exekutive lockert ihre Bindung an Recht und Gesetz.

Beispiel eins: Die Wehrpflicht wurde mit Beginn des Jahres 2011 ausgesetzt, ohne dass das damals geltende Wehrpflichtgesetz vom Bundestag schon entsprechend geändert worden war.

Beispiel zwei: Die Bundesregierung beschloss nach der Fukushima-Katastrophe, die sieben ältesten deutschen Atommeiler vorübergehend vom Netz zu nehmen. Dieses "Moratorium" widerspricht dem Atomgesetz, das die Bundesregierung selbst betrieben und mit dem sie im vergangenen Herbst die Verlängerung der Laufzeiten der hiesigen Atommeiler beschlossen hatte. Kein GAU vermag die Bindung der Regierung an das Gesetz zu lösen. Es hätte vom Bundestag geändert werden müssen.

Beispiel drei: Das von der Großen Koalition stammende Gesetz zur Sperrung von Kinderpornografie-Seiten im Internet aus dem Jahr 2009 wurde und wird nicht angewendet - weil das im schwarz-gelben Koalitionsvertrag so vereinbart wurde. Jetzt erst kommt die Änderung, jetzt erst haben die Koalitionäre die Rücknahme des Gesetzes vereinbart.

Parlament kommt von "parlare", das heißt reden; "parlare" heißt nicht: zu allem nicken; es heißt nicht: alles schlucken; es heißt auch nicht zuzuschauen, wie die Regierungspolitik um das Parlament einen großen Bogen macht. Den Bogen begann Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD): Er organisierte Gremien, die neben oder an Stelle des Parlaments und seiner Ausschüsse berieten: die Einwanderungs-Kommission, die Bundeswehr-Kommission, die Schlossplatz-Kommission, den Ethikrat. An die Stelle des vom Volk gewählten Parlamentes setzte Schröder viele kleine, von ihm gewählte Parlamente, die er selbst einberief und deren Mitglieder er selbst ernannte.

Er tat dies, so sagte er, um Diskussionsprozesse anzustoßen und gesellschaftliche Blockaden zu überwinden. Die Begründung war löblich. In der Summe ergab sich aber eine für die repräsentative Demokratie problematische Entwicklung: Das Machtverhältnis verschob sich von der Legislative zur Exekutive. Aus der Gewaltenteilung wurde eine Gewaltenneuverteilung. Gelegentlich ist es heute schon so, dass ein Gesetz nur noch die Rolle eines Drohmittels spielt, um so die Gremien zur Räson und zu einer Einigung zu bringen, die dann an die Stelle des Gesetzes tritt. Die Gesetzgebung wird entparlamentarisiert.

Schröder hat das Regieren am Parlament vorbei nicht erfunden. Schon Jahrzehnte vorher gab es die Konzertierte Aktion, in der Vertreter des Staates, der Arbeitgeber und der Gewerkschaften sich abstimmten. Noch nie aber hat sich die Auslagerung gesellschaftlicher Großthemen aus dem Parlament so massiert wie in den vergangenen zehn Jahren. Was Schröder begonnen hat, führte Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) weiter. Der Entparlamentarisierungsschub trifft einen Bundestag, der durch die europäischen Entwicklungen schon geschwächt ist: In der EU ist die demokratische Gesetzgebung Not leidend, weil die Gesetze vom Europäischen Rat gemacht werden, also einem Organ der Exekutive. Die Unwucht im demokratischen Betrieb, wie sie auf europäischer Ebene besteht, wird in Deutschland durch den kanzleramtlichen Regierungsstil noch vergrößert.

Hilfen aus Karlsruhe

Vor zwanzig Jahren hat der Deutsche Bundestag die Entmündigung abgeschafft. Er wollte nicht mehr zusehen, wie Menschen juristisch degradiert, wie ihnen Nutzlosigkeit attestiert wird. Der Deutsche Bundestag wollte diesen Menschen ihre Würde zurückgeben. Heute widerfährt dem Parlament selbst das Schicksal, das es damals den alten und den behinderten Menschen ersparen wollte. Der Bundestag ist zwar erst gut sechzig Jahre alt, aber offenbar gleichwohl gebrechlich. Wenn Menschen alt und gebrechlich geworden sind und ihre Angelegenheiten nicht mehr selbst regeln können, wird ihnen vom Gericht ein Betreuer zur Seite gestellt, der sich dann um die Dinge kümmert, die notwendig sind: Er kauft einen Rollstuhl, kümmert sich um das Vermögen und sorgt dafür, dass regelmäßig ein Arzt kommt.

Für den gebrechlichen Bundestag hat das Bundesverfassungsgericht den Versuch unternommen, diese Rolle zu übernehmen: In drei Urteilen haben die Verfassungsrichter versucht, sich dem Bundestag fürsorglich zur Seite zu stellen, seine Rechte zu stärken. Beim ersten Urteil, zum EU-Vertrag von Lissabon, räumte Karlsruhe dem Bundestag mehr Mitbestimmungsrechte in Europa ein; es befreite ihn aus seiner hier auch selbstgewählten Statistenrolle und verurteilte ihn zu mehr Demokratie. Im zweiten Urteil stärkte das Bundesverfassungsgericht die Rechte der parlamentarischen Untersuchungsausschüsse. Im dritten Urteil stärkten die Verfassungsrichter das Fragerecht der Abgeordneten; es erklärte die Herablassung, Oberflächlichkeit und Dürftigkeit, mit der die Regierung immer wieder Fragen der Parlamentarier behandelt, für verfassungswidrig. Die Regierung könne mit den Abgeordneten nicht umgehen wie mit lästigen Bittstellern.

Das Bundesverfassungsgericht hat mit seiner Rechtsprechung versucht, dem Bundestag neue Kraft zu geben. Mehr als Hilfe zur parlamentarischen Selbsthilfe können die Karlsruher Verfassungsrichter allerdings nicht leisten. Die vormundschaftsgerichtliche Betreuung des Bundestags durch das deutsche höchste Gericht kann und darf nur eine vorübergehende sein. Sein Selbstwertgefühl muss das Parlament schon selbst wiederfinden. Das Vergnügen an der eigenen Identität und Aufgabe sollte es sich leisten.