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Blaupause für junge Demokratien

GRUNDGESETZ I Deutschlands Verfassung ist Vorbild für viele Länder. Die nationalen Eigenarten müssen gewahrt bleiben

30.05.2011
2023-08-30T12:16:44.7200Z
6 Min

Zahlreiche deutsche Institutionen senden seit Jahrzehnten ihre verfassungs- und staatsrechtlichen Experten in andere Länder, um diese beim Neubau, Umbau oder der Stabilisierung ihrer staatsrechtlichen Ordnung zu unterstützen. Es sind vor allem die großen politischen Stiftungen wie die Konrad-Adenauer-, die Friedrich-Ebert- oder die Friedrich-Naumann-Stiftung, ferner die Stiftung für Internationale Rechtliche Zusammenarbeit und die Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ), die alle mit Mitteln aus dem Bundeshaushalt fremde verfassunggebende Versammlungen, Parlamente und Regierungen beraten. So war es in Chile, Argentinien, Südafrika, Namibia, Thailand, Kambodscha, Usbekistan, Georgien, Moldawien, Kroatien, Bosnien und Herzegowina, Mazedonien, im Kosovo, in Afghanistan, Jordanien, jetzt in Ägypten und möglicherweise recht bald in Libyen. Schwerpunkte sind die Verfassungsgebung selbst oder ihre Detaillierung in Wahl-, Parteien- und Mediengesetzen und im Aufbau einer (Verfassungs-)Gerichtsbarkeit sowie der Ermöglichung oder Verbesserung der Menschenrechtsgebung.

Rahmen von Politik

Verfassung und Recht sind der Rahmen der Politik. Ohne eine effektive Rechtsordnung lässt sich "kein Staat machen". Gemeinwohlverwirklichung, politische Führung und Gerichtsschutz sind ohne effiziente Rechtsordnung schwach oder brechen zusammen. Davon lesen wir täglich in der Zeitung. Jedes Land hat eigene Vorstellungen, was Recht, was "richtig" ist. Die Rechtskultur ist ein wichtiger Teil der Kultur des Landes, in die sich Zusammengehörigkeitsgefühl der Menschen, Wirtschaft, Kunst, auch Selbstbewusstsein und Stolz auf das Land einfügt. Deshalb ist es unmöglich die Rechtsordnung eines Landes, etwa der Bundesrepublik Deutschland, in ein anderes Land 1:1 zu "exportieren". Die Grundzüge unserer Verfassung, unseren Rechts können allenfalls übersetzt werden, die fremde Rechtsordnung soweit, wie gewollt und möglich, angepasst werden. Das um Beratung nachsuchende Land ist niemals Objekt von außen kommender Umgestaltung, sondern Subjekt eigener Neuorientierung. Verfassung und Recht werden nicht einfach weitergegeben oder aufgenommen. In Wirklichkeit vollzieht sich eine kulturelle Integration von höchst verwickelter und wandelbarer Schichtung. Denn es versteht sich, dass ein Volk fremdes Recht nur übernehmen und anwenden wird, wenn es dieses Recht zu einem Element des eigenen Lebens und Denkens macht. Verfassungs- und Rechtsberatung sind ganz und gar friedliche Vorgänge, die - jedenfalls heute - nicht mit Aggression, Imperialismus, Überlegenheitsvorstellungen oder Überwältigungsstrategien zu tun haben.

Ausstrahlung

Das deutsche Staatsrecht hat sich bewährt. Sozialstaatliche Entwicklung, die Bewältigung der Aufgaben, die sich aus der Wiedervereinigung ergaben und ergeben, wären ohne eine akzeptable Rechtsordnung nicht möglich. Das strahlt aus. Andere Länder sehen es auch so. Nach dem gescheiterten Versuch von Weimar und dem fürchterlichen Rückschlag der Jahre 1933 bis 1945 nehmen wir es mit der freiheitlich-demokratischen Grundordnung ernst. Wir bemühen uns auch mit einer Portion Idealismus zu beraten, ohne den Blick vorwiegend auf die Knüpfung und Festigung von Handelsbeziehungen und andere sehr praktische Ziele zu richten. Das machen nicht alle ausländischen Experten so. Schließlich ist unsere institutionelle Beratungsstruktur hilfreich. Sie ist vielfältig. Neben Regierungsdelegationen wirken viele Einrichtungen, wie eben die Stiftungen "im Schatten des Staates". Eine gewisse Staatsdistanz hat Vorteile. Wenn unabhängige Berater im politischen Zentrum des beratenen Landes - beim Staatspräsidenten, im Parlament, beim Justizminister - tätig werden, wird das nicht so leicht als von außen kommende Einmischung wahrgenommen. Es ist auch keine außenpolitische Katastrophe, wenn - was geschehen kann - die Beratung misslingt, die Berater nach Hause geschickt werden, das Verfassungswerk kollabiert. Auch lässt die Pluralität der Berater eine Arbeitsteilung zu: die eine Organisation tut sich im beratenen Land mit den Gewerkschaften leichter, die andere mit den Unternehmern, die eine mit dieser Partei, die andere mit jener. Der eine Berater steht im Vielvölkerstaat dieser ethnischen Gruppe näher, der andere jener. Es zeigt sich dann immer wieder, dass die Übereinstimmung in der Bewertung unseres Grundgesetzes, seinem Grundrechts- und Staatsorganisationsverständnis, mögliche parteipolitische Differenzen überwiegt.

Denn das Grundgesetz verwirklicht in hohem Maße die Prinzipien des modernen Verfassungsstaates, des parlamentarisch-demokratischen Grundrechte-Rechtsstaates, eben der "freiheitlich-demokratischen Grundordnung", wie es in Artikel 21 Absatz 2 des Grundgesetzes heißt. Ausgangspunkt und Maßstab der Beratungstätigkeit im Ausland sind Grundrechte und Gewaltenteilung als freiheitliche Elemente und parlamentarische Arbeit sowie Partizipation der Bürger in Staat und Gesellschaft als Pfeiler der Demokratie. Unsere hochentwickelte (und teure) Sozialstaatlichkeit lässt sich nicht in jedem Land dieser Welt in die Realität umsetzen. Der Bundesstaat als eine Form der Dezentralität kann - trotz aller Mängel - Vorbild in vielen Staaten sein, die Einheit in Vielfalt erstreben. Das gilt etwa für Südafrika, Afghanistan, Bosnien und Herzegowina: Länder, in denen deutsche Berater tätig waren und sind.

Deutsche Unterstützung wird besonders dann gesucht, wenn es um Rechtsstaatlichkeit, Verfassungsgerichtsbarkeit und eine funktionierende Verwaltung geht. Ein wichtiges Element gesellschaftlicher, politischer und rechtlicher Stabilität sehen andere Länder in der Durchsetzung der Höchstrangigkeit des Verfassungsrechts. Parlament, Regierung, Verwaltung, auch der Bundespräsident müssen sich der Verfassung beugen, und was die Verfassung letztlich ist, sagt das Bundesverfassungsgericht (so hat es der amerikanische Richter Felix Frankfurter für den Supreme Court ausgedrückt). Deshalb das große Interesse anderer Länder gerade an Aufbau und Verfahren des Karlsruher Gerichtes, etwa in Japan, Südkorea, Südafrika und Bosnien-Herzegowina. Dass jeder Bürger sich mit einer Verfassungsbeschwerde direkt an das Höchste Gericht wenden kann, wird im In- und Ausland als Krönung des Rechtsstaates angesehen. Jedes Jahr werden in Karlsruhe 5.000 bis 6.000 Beschwerden eingelegt. Die Bürger wissen, welches Verfassungsrecht ihnen da zugewachsen ist. Bei der verfassungsrechtlichen Verankerung und einfach-gesetzlichen Unterfütterung der Demokratie kommt es gerade auf die Eigenheiten eines Landes an: auf die Geschichte und politische Erfahrung, auch Temperament und auf die wirtschaftliche Entwicklung eines Volkes, einer Gesellschaft, der politischen Parteien und Gruppen, auch auf den Einsatz und die Tatkraft der politischen Eliten. Hier kann der ausländische Berater weniger Maßstäbliches oder gar Allgemeinverbindliches sagen.

Beratung weltweit

Man kann aus der Sicht deutscher Verfassungsberater drei Gruppen von beratenen Ländern unterscheiden. Da sind zunächst die Länder, die im Wettbewerb der zusammenwachsenden Welt ihre Verfassungsordnungen modernisieren. Das gilt etwa für Chile, Argentinien, Ecuador, Guatemala. Eine zweite Gruppe bilden die Transformationsländer des ehemaligen sozialistischen Wirtschafts- Sozial- und Rechtssystems, also die Nachfolgestaaten der Sowjetunion, aber auch das ehemalige Jugoslawien. Bei der Einführung des freiheitlichen Verfassungsstaates, oft auf der Grundlage durch den Kommunismus verschütteter alter Rechtsordnungen, waren deutsche Rechtsberater praktisch in jedem Land beteiligt: ob in der Ukraine, in Georgien, Moldawien, Kasachstan, Kirgistan oder Usbekistan. Bei den sich anschließenden Verfahren des Beitrittes zur Europäischen Union - Rumänien, Bulgarien, Slowenien, Kroatien, Bosnien-Herzegowina, Mazedonien - war und ist deutsche Verfassungs- und Rechtsberatung praktisch ein Teil der gemeinsamen Hinführung in den europäischen Verfassungsraum. Letztlich gibt es eine dritte Gruppe von Ländern, die Verfassungsberatung aus Deutschland wünschen: Entwicklungsländer und solche Staaten, die nach Revolutionen und tiefgreifenden Umbrüchen ganz neue Rechtsordnungen benötigen: Südafrika, Namibia, Afghanistan und Kambodscha. Hier ist vielfach die Eilbedürftigkeit die Mutter der Anlehnung an einen erfahrenen Rechtsstaat und seine Verfassung. Häufig muss in geduldiger Arbeit das Fundament eines tragfähigen Staates gelegt werden. Das gilt wohl aktuell auch für Tunesien, Ägypten, Libyen, den Jemen, Sudan, möglicherweise Syrien.

Die Zukunft gehört offener Staatlichkeit und dem freiheitlich-demokratischen Verfassungssystem. Das ist das Ziel des Volkes in autoritären, gar diktatorischen Staaten. Das ist die Überzeugung deutscher und anderer Rechtsberater. Es gibt keine "Verfassung von der Stange". Jedes Land braucht seine eigene Verfassung, die "zu ihm passt". Freiheit und Demokratie sind das gemeinsame Ziel. Die Länder mögen auf dem weg zu diesem Ziel unterschiedlich weit gekommen sein. Es gibt aber kein Land, das sich für die freiheitliche Demokratie nicht eigne, wie manchmal behauptet wird. Prinzipien dieser Staatsform müssen dem Berater als Leitbild dienen.

Es kann aber nicht darum gehen, die aus zumeist schweren politischen und verfassungsrechtlichen Krisen hervorgegangenen verfassungspolitischen Entwürfe des Gastlandes vom "grünen Tisch" am Maßstab der parlamentarischen Grundrechtedemokratie westlicher Prägung zu messen. Die sich bietenden Alternativen, die Ratschläge, die man gibt, müssen aus der Sicht des betroffenen Volkes, der Lage und Geschichte des Landes beleuchtet werden. Man darf nicht bevormunden, nicht die Souveränität, den Stolz, den Idealismus und das Engagement der Akteure verletzen. Eine gewisse Erfahrung in der Beratungstätigkeit ist notwendig und auch erlernbar. Sensibilität, Toleranz, Neugier und Freude an fremden Kulturen helfen dabei. Zweifellos ist insbesondere gerade die Verfassungsberatung eine heikle Aufgabe. Man muss zuerst zuhören und lernen. Aber dann kann man sprechen und raten und eine politisch hoffnungsvolle bessere Zukunft des Landes mitgestalten. Insofern ist Rechtsberatung eine lohnende Aufgabe.

Der Autor ist Professor für Staatsrecht an der Universität Hamburg. Er hat unter anderem den verfassungsgebenden Prozess in Afghanistan und in Bosnien-Herzegowina beratend begleitet.