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Das zweite Leben der Politiker

Seitenwechsel Nicht jedem Mandatsträger gelingt der Umstieg nach der politischen Karriere. Jüngere haben es besonders schwer

14.06.2011
2023-08-30T12:16:45.7200Z
6 Min

Die mächtigen Kuppeln der Sankt Hedwigskathedrale und des Berliner Doms türmen sich hoch vor seinem Fenster auf. An sonnigen Tagen strahlt Matthias Wissmann obendrein das Kreuz von der Silberkugel des Fernsehturms entgegen, einst ein Dorn im Auge des DDR-Staatsratsvorsitzenden Walter Ulbricht. Ausgerechnet das Prestigebauwerk der DDR war mit dem Symbol des Christentums verstellt. Der Blick des Christdemokraten Matthias Wissmann hat sich verändert. Seit der heute 62-jährige 2007 sein Bundestagsmandat niedergelegt hat, schaut er nicht mehr direkt aufs Regierungsviertel. Sein Büro befindet sich ein paar hundert Meter Luftlinie von Kanzleramt und Reichstagsgebäude entfernt, im edlen Teil von Berlins Mitte. Heute ist der Schwabe Lobbyist. Der ehemalige Bundesverkehrsminister ist Präsident des Verbandes der Deutschen Automobilindustrie (VDA) und vertritt dessen Interessen. Er ist Seitenwechsler.

Mandat verloren

Wie Wissmann, der 31 Jahre lang im Parlament saß, scheiden viele Politiker während oder am Ende einer Legislaturperiode aus dem Bundestag aus - aus unterschiedlichsten Gründen. Sie nehmen neue Tätigkeiten auf, andere kandidieren aus Altersgründen nicht mehr oder verlieren ihr Mandat. Manchen fliegen neue Herausforderungen nur so zu, andere dagegen suchen händeringend nach neuen Jobs, kämpfen ums Überleben.

Vier Schicksale

Die frühere Bundesgesundheitsministerin Andrea Fischer (Bündnis 90/Die Grünen) sitzt heute mit ihrem Beratungsbüro für Gesundheitspolitik und Gesundheitswirtschaft in Berlin-Charlottenburg. Die frühere SPD-Bundestagsabgeordnete Lilo Friedrich hat in Monheim am Rhein eine Putzfirma gegründet. Der frühere Bundesinnenminister und Vize-Präsident des Bundestags, Rudolf Seiters (CDU), ist seit 2003 Präsident des Deutschen Roten Kreuzes (DRK) und pendelt zwischen seinem Wohnort in Papenburg und Berlin hin und her. an der Spree wohnt er in einem Hotel am Tiergarten. Vier Ex-Parlamentarier, vier Schicksale, vier neue Ausblicke. Winkt ihnen das dicke Geld, wie oft angenommen? Lilo Friedrich und Andrea Fischer können über solche Mutmaßungen nur den Kopf schütteln. Die Gleichung: einmal Parlamentarier und dann für alle Zeiten ausgesorgt, geht für viele nicht auf.

Der Abstieg

Lilo Friedrich (sieben Jahre im Parlament) war dringend auf einen Verdienst angewiesen, als sie 2005 mit dem Rückzug des damaligen Kanzlers Gerhard Schröder (SPD) bei den Neuwahlen ihr Mandat für den Wahlkreis Mettmann verlor. Sie war damals 56 Jahre alt, einige ihrer sechs Kinder waren noch in der Ausbildung. Der monatliche Kredit für die kurz zuvor erworbene Eigentumswohnung drückte. Ihr Mandatsverlust war eine persönliche Katastrophe. Sie schrieb dutzende Bewerbungen, bis sie 2006 beschloss: "Ich mache mich selbstständig mit einer Putzfirma. Mein Sohn war entsetzt und meinte: Das ist ja der Abstieg. Ich habe ihm erklärt, Arbeit schändet nicht." Lilo Friedrich hat die Firma mit zeitweilig 20 und schließlich zehn Mitarbeitern bis vor kurzem selbst geführt, hat sie aber dann an ihren Mann abgegeben. Jetzt ist sie Rentnerin und steht ihrem Mann nur noch beratend zur Seite.

Ernüchterung

Andrea Fischer (acht Jahre im Parlament) arbeitete in vielen Bereichen, als freie Publizistin, Lobbyistin in der internationalen Gesundheitspolitik, in Beratungs- und PR-Unternehmen, moderierte Fernsehsendungen. Seit 2009 arbeitet sie selbstständig und will im Herbst für Bündnis 90/Die Grünen als Berliner Bezirksbürgermeisterin kandidieren. Die Grüne musste nach ihrem Ausstieg aus dem Deutschen Bundestag schnell erkennen: "Die Welt stand mir nicht in dem Sinne offen, dass alle kommen und sagen: Wir wollen Sie haben. Als ich als Gesundheitsministerin ausschied, war ich 42. Ich musste mir unbedingt eine neue Arbeit suchen. Ich brauchte das Geld."

Einprägsame Bilder

Das Schlüsselerlebnis für den Wechsel in seine heutige ehrenamtliche Tätigkeit als Präsident des Deutschen Roten Kreuzes war für Rudolf Seiters (33 Jahre im Parlament) 1989: "Als ich mit Hans-Dietrich Genscher auf dem Balkon der deutschen Botschaft in Prag stand, da blickten wir nicht nur auf die vielen Flüchtlinge sondern auch auf die Zelte des DRK. Dieses Bild hat mich nie verlassen." Ein Freund habe ihn als Nachfolger haben wollen. Damals winkte der CDU-Politiker aber noch ab. Er verblieb noch einige Jahre im Parlament, bis er im Jahr 2003 dann doch die Präsidentschaft des Roten Kreuzes übernahm.

Alternativlose Politik

Wer hat Chancen, im Anschluss an die parlamentarische Zeit Karriere zu machen? Wer hat es eher schwer? Aus der Studie zu Ex-Abgeordneten von Michael Edinger und Bertram Schwarz "Leben nach dem Mandat" (Universität Jena) geht hervor, dass der Wechsel in "glänzend dotierte Lobbyisten-Positionen" nicht typisch ist für ehemalige Mandatsträger und nur einem sehr kleinen Kreis von Spitzenpolitikern vorbehalten ist. Peter Herrendorf, Geschäftsleiter bei der Personalberatung Odgers Berndtson in Frankfurt am Main, hat beobachtet: "Sicherlich haben es junge Abgeordnete ohne eine qualifizierte berufliche Ausbildung schwer, anderweitig Fuß zu fassen. Wenn diese dann zu spät, freiwillig oder erzwungen, abspringen, droht die Politik für sie beruflich alternativlos zu werden. Erst wenn sie sich in der Politik ein öffentliches Profil erarbeitet haben, steigen ihre Berufschancen wieder."

Name als Marke

Für die beiden Juristen und ehemaligen Minister Rudolf Seiters und Matthias Wissmann war der Sprung in die postparlamentarischen Karrieren fast nahtlos. Sie waren beide lange Zeit Parlamentarier in Spitzenpositionen. Ihre Namen sind zu Marken geworden. Wie der des früheren Kanzlers Gerhard Schröder (SPD), der unter anderem Aufsichtsratsvorsitzender bei der Nord Stream AG ist, einer Tochter des russischen Energiekonzerns Gazprom. Oder auch Ex-Bundesaußenminister Joschka Fischer (Bündnis 90/Die Grünen), der als politischer Berater für verschiedene Unternehmen arbeitet, darunter für BMW. Oder Hildegard Müller (CDU), die nach ihrer Ausbildung zur Bankkauffrau Betriebswirtschaftslehre studierte, als Abteilungsdirektorin bei einer großen Bank arbeitete, bevor die Ex-Chefin der Jungen Union Staatsministerin im Kanzleramt wurde und damit zu den engsten Vertrauten von Kanzlerin Angela Merkel zählte. Heute ist die 43-jährige Hauptgeschäftsführerin des Bundesverbands für Energie- und Wasserwirtschaft.

Respekt erlangt

Wofür steht etwa die "Marke Wissmann"? "Ich habe mich immer um Verlässlichkeit, Vertrauen und Verschwiegenheit bemüht. Das schafft Respekt über Parteigrenzen hinweg. Der größte Fehler mancher Politiker ist, dass sie Projekte zerreden und nicht schweigen können." Kenntnisse über politische Abläufe erleichtern dem Christdemokraten Wissmann die Lobbyarbeit. Er habe sich früher furchtbar geärgert, wenn Lobbyisten zu ihm kamen und ihm die Zeit mit Belanglosigkeiten raubten. Das versucht der VDA-Präsident zu vermeiden. Rudolf Seiters, der nur Aufwandsentschädigungen für seine ehrenamtliche Tätigkeit erhält, bringt viele Erfahrungen mit ein. Er kennt sich in Berlin bestens aus. "Ich habe in meiner Tätigkeit als DRK-Präsident viele Berührungspunkte mit der Politik. Es fällt mir leicht, Türen zu öffnen, weil ich viele Politiker persönlich kenne." Dabei ist für den 73-Jährigen hilfreich, dass er in seinen letzten Parlamentsjahren als Bundestags-Vizepräsident Neutralität wahren musste und Kontakt zu Vertretern aller Fraktionen hielt.

Debatte um Ehrenkodex

So erfreulich die Tätigkeit mancher ehemaliger Politiker für ihre neuen Arbeitgeber auch sein mag, so ärgerlich ist dies für manche Kritiker. Die Politiker werden gescholten für fliegende Wechsel in Wirtschaft oder Verbände. Matthias Wissmann kennt solche Widerstände, kontert: "Der Wechsel zwischen Wirtschaft und Politik, der in den USA üblich ist, sollte auch bei uns selbstverständlicher werden. Auf ein paar Dinge sollte man aber achten: Es muss ein klarer Schnitt sein und eine Abkühlungsphase zwischen der alten und neuen Funktion ist sicher sinnvoll. Aber ein Berufsverbot für Politiker, in die Wirtschaft zu gehen, halte ich für nicht richtig." Vor sechs Jahren kamen Forderungen nach einem Ehrenkodex für Politiker nach ihrem parlamentarischen Leben auf. Anstoß für die Debatte im Jahr 2005 gab Gerhard Schröders Einstieg in die Gazprom-Tochter, jenem Unternehmen, dem er bereits als Bundeskanzler wohlwollend gegenüber gestanden habe, wie Kritiker heute monierten. Eine schriftliche Gebrauchsanweisung in den Bundestags-Fraktionen, was ein ehemaliger Politiker darf und was nicht, gibt es nach Auskunft von Union und FDP aber nicht. Headhunter Herrendorf gibt zu bedenken, dass vor allem die Sachkenntnis eines Politikers sein Kapital auf dem Arbeitsmarkt sei. Bei der immer wieder geforderten "Abkühlungsphase" würde sie verkümmern. Er könnte den begehrten Job-Wechsel nicht mehr schaffen.