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Ausstiegsland Deutschland

ENERGIEWENDE Ein Besuch im Dreiländereck Nordhessen, Südniedersachsen und Ostwestfalen

04.07.2011
2023-08-30T12:16:45.7200Z
7 Min

Was im Bundestag abstrakt erscheinen mag, wird in den Wahlkreisen der Abgeordneten konkret. In der Energiefrage zeigt sich, wie sehr der Bundestag das Forum der Nation ist. Findet keine Sitzungswoche im Parlament statt, sind die Abgeordneten an der Basis unterwegs und erfragen die Ängste, Wünsche und Bedürfnisse der Menschen vor Ort.

Verliehausen, Südniedersachen

Clemens Ropeter trägt ein Baumwollhemd, keinen Strahlenschutzanzug und auch kein Dosimeter. "Das hier sind unsere zwei Reaktoren", sagt er schmunzelnd und zeigt auf zwei Bauteile einer Biogasanlage, deren Geschäftsführer er ist. In den drei grünen Rundbauten, die aussehen, als wären sie einem "Die Schlümpfe"-Cartoon entwachsen, vergären rein organische Inhaltsstoffe: Mais, Roggen und Weizen. Drumherum sollen Hecken und Sträucher zu einem optischen Schutzwall heranwachsen. Zehn Autominuten sind es in die verschlafene Solling-Stadt Uslar, keine fünf Minuten nach Nordhessen, gerade einmal 20 bis Ostwestfalen. Hier, unmittelbar im Dreiländereck, gibt es viel Landwirtschaft, ein wenig Tourismus und fast keine Industrie. Die Biogasanlage soll lediglich das Dorf versorgen und nebenbei ein wenig Strom ins Netz des Energieversorgers Eon einspeisen.

Die Straßen in Verliehausen sehen derzeit aus wie eine Kraterlandschaft. Fernwärmeleitungen werden verlegt, 64 Hauseigentümer haben sich für die neue Energieversorgung entschieden und sind Gesellschafter der Betreibergesellschaft geworden. Mehr hätten es auch gar nicht sein dürfen, erklärt Clemens Ropeter: 65 Häuser könne die Anlage maximal versorgen. Und im Winter muss zugeheizt werden: "Deshalb haben wir einen Hackschnitzel- und Pellet-Brenner installiert", der müsse dann zum Einsatz kommen.

Etwas Idealismus gehört dazu, will man "Bioenergiedorf" werden: Die Fördergelder seien niedrig, sagt Ropeter, 4.500 Euro für stapelweise Anträge, und von der ersten Genehmigungsanfrage bis zum gegenwärtigen ersten Testbetrieb in einigen Häuser seien fünf Jahre vergangen. "Ich bin überzeugt, das schreckt andere Dörfer ab." Im eigenen Dorf gibt es auch Kritik - allerdings nur, weil sich das Verlegen der Fernwärmerohre schon über ein Jahr zieht: Der beauftragte Tiefbauunternehmer arbeite schlicht zu langsam.

Die Vielzahl der Bioenergiedörfer in Südniedersachsen, betont Grünen-Fraktionschef Jürgen Trittin, sei mit auf seine Initiative zurückzuführen. Sein Wahlkreis ist Göttingen, rund zwanzig Autominuten entfernt. Aber ohne die Akzeptanz und das Engagement der Bürgerinnen und Bürger, so Trittin, wäre die Umsetzung nicht möglich gewesen: "Die Menschen sind hier so und wollen das. Wir unterstützen sie dabei."

Lutz Knopek ist Naturwissenschaftler und kann Trittins Euphorie nicht teilen. Knopek sitzt für die FDP-Fraktion im Bundestag, auch er hat seinen Wahlkreis in Göttingen. Während Trittin meint, dass Göttingen in dreißig Jahren allein mit erneuerbare Energien auskommen wird, ist Knopek kritisch: "2040 wird Göttingen definitiv nicht autark mit erneuerbaren Energien funktionieren." Er verweist dabei auf das Universitätsklinikum, das seinen "energieintensiver Betrieb", vor allem die Intensivstationen, 356 Tage im Jahr zuverlässig betreiben muss und deshalb "nicht allein von Sonne und Wind abhängig gemacht werden kann."

Arenborn, Nordhessen

Arenborn ist drei Kilometer Luftlinie von Ropeters Reaktoren entfernt, und das Funkeln kann man von weither sehen: Zwei riesige Solarfelder stehen hier auf einer kargen Anhöhe, allein eines ist zehn Hektar groß.

Von hier aus öffnet sich der Blick über den weiten Horizont. Von den nordhessischen Photovoltaikfeldern über die südniedersächsische Biogasanlage bis hin zu einem Feld von Windrädern auf dem Hügel dahinter, die zu einer der nächsten Ortschaften gehören. Früher hätten sich Kondenswasserwolken in das Panorama gedrängt, die bis 1997 von den Kühltürmen des ostwestfälischen Atomkraftwerks Würgassen aufstiegen. Doch der Meiler ist längst abgeschaltet, und befindet sich seit 1997 im Rückbau.

Auf dem Hügel in Arenborn scheint die Welt der Energiewende in Ordnung zu sein. Walter Decker, 70 Jahre alt, verfechtet sie mit Verve. 40 Jahre lang war er Vorsteher des kleinen Ortes mit 230 Einwohnern. Die Solarfelder, neben denen Decker steht, sind seit rund einem Jahr in Betrieb. Noch zu seiner Amtszeit wurden sie errichtet.

"Einige haben erst seit Fukushima dazu gelernt - ich wusste schon immer, dass die erneuerbaren Energien Zukunft haben", betont Decker. Die Anlage hier gehört nicht den Bürgern, sondern einer privaten Betreiberfirma. Doch den Anwohnern im Umkreis von 50 Kilometern wurden Anteile mit Vorkaufsrecht zu vergünstigten Konditionen angeboten. Der Strom wird in das Netz des Betreibers Eon eingespeist. Eine 20.000-Volt-Leitung führt in unmittelbarer Nähe von Südniedersachsen nach Nordhessen.

Die erste Anlage produziere mehr Strom als kalkuliert, die Betreiber seien zufrieden; so kam es, dass eine andere Firma gleich einen zweiten Solarpark daneben stellte. Der Region tue das gut, so Decker, denn die Bauaufträge seien an lokale Unternehmen vergeben worden, und eine Baumschule aus dem nächstgrößeren Ort habe die komplette Bepflanzung durchgeführt. Denn die Dorfbewohner achten auf die Optik: Der Betreiber wurde verpflichtet, den Zaun zum Gelände zu begrünen. Noch allerdings stechen die Spuren der Bauarbeiten mehr ins Auge als die künftige Blumenpracht. "Schön finde ich es nicht, aber ich finde es gut", sagt eine Anwohnerin. Gut finden das Gelände auch die Schafe eines Verliehäuser Landwirts, die zwischen den Solarpanels weiden: Für sie gibt es hier Schatten, sie finden Futter und halten das Gras kurz. "Da gibt es keine Geräusche, keine Gerüche, nix. Das ist eine vollkommen friedliche Anlage, die Strom macht", so Decker. Nur die Schafe müffeln ein wenig, darüber schweigt Herr Decker, auf dem Land ist das normal. Ordentliche Leistung gebe es "selbst bei extrem diffusem Licht", nur bei geschlossener Schneedecke sei Schluss.

Nicht weit von Arenborn entfernt liegt der Wahlkreis der SPD-Abgeordneten Ulrike Gottschalck, das nordhessische Kassel, das - wie sie nicht ohne Stolz berichtet - schon einmal den Deutschen Solarpreis gewonnen hat: "Wir sind in Nordhessen sehr führend mit erneuerbaren Energien, weil wir extrem früh angefangen haben, diese zu fördern." Die Menschen empfänden Wind- und Solarparks nicht als "Verschandelung der Landschaft", im Gegenteil: "Wenn ich so rumkomme, dann sagen die Leute durchaus, ein Windrad, das ist ein echtes Monument, das uns zeigt, wir können unabhängig werden."

Und die ortsansässige Industrie in Nordhessen spezialisiert sich - übrigens auch in Südniedersachsen - bereits seit einiger Zeit auf Technologien für erneuerbare Energien. In den letzten Jahren, berichtet Gottschalck, wurden bereits 12.000 neue Arbeitsplätze geschaffen. Bis 2020 sollen es sogar 20.000 sein. Der heimische Autobauer VW lässt in seinem Werk in Baunatal bei Kassel sogar ein neues Elektro-Auto produzieren. 500 Exemplare sollen in diesem Jahr davon bereits vom Band laufen.

Würgassen, Ostwestfalen

Von Arenborn aus gelangt man binnen 30 Autominuten, durch einen dunklen Wald und an der Weser entlang, nach Würgassen. Die Straße schlängelt sich an den Hügeln des Weserberglands entlang. Früher fielen hier die Kühltürme ins Auge. Fremde fragten sich gelegentlich, wieso Eltern es ihren Kindern erlaubten, im 500 Meter vom Atommeiler entfernten See zu baden und zu campieren.

Heute gibt es hier keine Kühltürme mehr des ersten vollständig kommerziell genutzten AKWs. Dafür vielleicht mehr Camper. Aber vielleicht ist auch der Wunsch Vater des Gedanken. Denn der Hauptarbeitgeber der Region, der Energiekonzern Eon hat hier abgebaut, Meiler und Menschen. 1994, im laufenden Betrieb, waren 360 Mitarbeiter permanent angestellt. Hinzu kamen laut Eon 125 Arbeiter von Fremdfirmen, die beispielsweise für den Objektschutz zuständig waren.

Heute sind hier nur noch 76 Arbeitnehmer dauerbeschäftigt; die Zahl der Arbeiter von Fremdfirmen, die die Demontage durchführen, liegt bei rund 350. Doch die bringen kein Geld in die Region, sind nur gelegentlich und ausschließlich unter der Woche vor Ort. Immerhin konnten einige aus der früheren Belegschaft im AKW Grohnde bei Hameln unterkommen: "Sie bilden Fahrgemeinschaften; ist ja nur eine Stunde Autofahrt", so Peter Klimmek, zuständig für Öffentlichkeitsarbeit im AKW Würgassen. Der vollständige Rückbau in Würgassen wird in drei Jahren abgeschlossen sein, "dann wird die Belegschaft auf 44 Arbeiter reduziert". Klimmek führt aus, dass das Werk dann noch weiterhin, wie auch gegenwärtig, als Zwischenlager für die eigenen Brennelemente genutzt werden wird. Die würden anschließend in den Schacht Konrad überführt, das stehe fest. Aber das verzögere sich momentan, weil dort noch kein Platz sei. Komplett soll der Standort Würgassen nicht aufgegeben werden. Ab 2026 werde man zumindest "noch eine Handvoll Leute" beschäftigen; vielleicht solle anstelle des Atomkraftwerks in Würgassen ein Gaskraftwerk entstehen, die Infrastruktur sei ja schließlich da, so Kimmek.

Man habe Glück gehabt, dass das Werk sofort zurückgebaut wurde: "Es hätte noch die Möglichkeit des ‚sicheren Einschlusses' gegeben." Dabei wäre der Meiler vom Kernbrennstoff befreit worden, damit keine Kühlung nötig ist; dann wäre 30 oder 40 Jahre gewartet worden und erst dann zurückgebaut. Dann wären auf ein Mal plötzlich alle Arbeitsplätze verloren gegangen. Für welche Rückbau-Variante man sich entscheide, sei unter anderem abhängig von der Antwort auf die Endlagerfrage, erläutert Kimmek.

Dorothee Menzner ist Abgeordnete der Linksfraktion und deren energiepolitische Sprecherin. Sie hat ihren Wahlkreis zwar in Helmstedt, ist aber bundesweit unterwegs. Erst neulich war sie auf einer Veranstaltung in Bielefeld. Die ostwestfälische Stadt bezieht ihren Strom vom nahegelegenen AKW Grohnde, der Stadt, zu der manch ehemaliger Würgassen-Mitarbeiter täglich pendelt. Erst 2021 soll hier das AKW vom Netz gehen - trotz Bürgerinitiativen gegen das AKW. "Das bewegt die Menschen", berichtet Menzner. "Wir versuchen, ihre Fragen, die wir nicht beantworten können, über Anfragen an die Bundesregierung zu klären, damit Transparenz und Wissen entstehen."

Jürgen Herrmann aus der CDU/CSU-Fraktion hat seinen Wahlkreis in Höxter, wo die Reste des AKW Würgassen stehen. "Das Kernkraftwerk Würgassen war immer ein Thema", so Herrmann, "aber nicht im negativen Sinne. Es hat für uns die Möglichkeit gegeben, wirtschaftliche Prosperität daraus zu ziehen." Zwar habe auch er sich manches Mal Gedanken gemacht, "insbesondere, weil ich als Polizeibeamter bei einer möglichen Evakuierung hätte mithelfen müssen". Doch man habe damit gut gelebt. "Und die Akzeptanz war da."

Ein Fazit

Der Atomkonsens, soviel ist absehbar, wird die Landschaft in Deutschland nachhaltig verändern - die politische wie die geographische. Die Abgeordneten des Deutschen Bundestages werden vor Ort dabei sein, wenn es darum geht, die Energiewende zu gestalten.

Eine große Herausforderung liegt vor Deutschland, und es wird wohl des Einsatzes vieler bedürfen, um sie zu bewältigen - im ganzen Land.