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Kurz notiert

14.11.2011
2023-08-30T12:16:52.7200Z
4 Min

Nach 40 Jahren Chaos, Krieg und Unterdrückung begehren die Menschen in weiten Teilen des Nahen Ostens auf. Plötzlich, scheinbar aus dem Nichts, erwacht ein "Arabischer Frühling", den nach der jahrzehntelangen Eiszeit mit eingefrorenen Herrschaftsstrukturen niemand mehr zu erhoffen gewagt hat. Auch nicht einer der profiliertesten Nahost-Kenner des deutschen Journalismus: Ulrich Kienzle. Das bekennt er freimütig in seinem jetzt vorgelegten Buch "Abschied von 1001 Nacht".

Kienzle hat diesen Abschied über Jahrzehnte als Korrespondent in den arabischen Ländern begleitet. Seine Erlebnisse fasst er auch gedruckt so zusammen, wie es sein Publikum am Fernseh-Bildschirm gewohnt war: Er erklärt Zusammenhänge, vermittelt Hintergründe, verdeutlicht Probleme - und trägt damit im besten Sinne des Wortes zur Meinungsbildung bei. Seine Schilderungen wecken Verständnis für die arabische Mentalität. Und sind dabei vergnüglich zu lesen. Vergnüglich? Darf ein Buch, das Krieg, Massenmord und grausamste Verbrechen als Themen nicht ausspart, Vergnügen bei der Lektüre bereiten? Ja, darf es. Jedenfalls dann, wenn die sprachlich gekonnt dargebotenen Schilderungen auf den ersten Blick nichtiger Begebenheiten dazu dienen, das arabische Denken und Fühlen zu erklären. Denn dieses Denken und Fühlen sind Grundlage für despotisches Verhalten, Menschenverachtung und ausgeprägte Bereitschaft zu bewaffneter Auseinandersetzung.

So analysiert Kienzle das arabische Kriegsverständnis als einen Kampf, der - entgegen der europäischen Sichtweise - nicht zum Ziel habe, den Gegner zu vernichten. Vielmehr gehe es darum, mit Waffengewalt die jeweiligen Ziele durchzusetzen, im Zweifel auch mit Verbündeten, die in einem anderen Konflikt noch bekämpft worden sind.

Es ist das große Verdienst dieses Buches, politische Entwicklungen durch die Beschreibungen gesellschaftlicher Merkmale im Nahen Osten greifbar zu machen. Der "Arabische Frühling" lässt sich deutlich besser verstehen und einordnen, wenn Ulrich Kienzles Buch gelesen ist.

Ulrich Kienzle

Abschied von 1001 Nacht

Sagas Edition

352 S. 19,90 €

Schon Johann Wolfgang von Goethe wusste, dass die Geschichte selbst keinen Standort kennt, wo sie sich sicher beobachten und einschätzen lässt. Nirgendwo sind die Dinge derzeit mehr im Fluss als in der arabischen Welt. Trotz aller Ungewissheiten dort bietet gleichwohl das Werk "Tage des Zorns" von Michael Lüders dem Leser gute Orientierung über das atemberaubende und teils verwirrende Geschehen. In ihm erschöpft sich der langjährige Nahost-Korrespondent nicht in einer Fakten-Darstellung, sondern versucht, die großen Linien der Entwicklungen aufzuzeigen und diese analytisch einzuordnen.

In seinem gutteils essayistisch geschriebenen Buch von den Revolutionsanfängen in Tunesien über die dramatischen Geschehnisse am Kairoer Tahrir-Platz bis hin zu aktuellen Entwicklungen in den Golf-Staaten und in Syrien schildert Lüders plastisch die historischen, politischen und sozialen Verhältnisse "vor Ort". Ohne ihre Kenntnis sind die Revolutionen nicht zu verstehen. So, weshalb die Umwälzungen im stärker mittelständisch geprägten Tunesien oder Ägypten mehr Erfolgsaussichten haben als anderswo. Lüders´ Buch ist eine Philippika gegen westliche Arroganz und Fehleinschätzungen über den Orient: Der Westen habe sich "nicht sehr interessiert für die Menschen in der arabisch-islamischen Welt, man war irgendwie der Meinung, dass Islam und Moderne nicht zusammengeht, man hatte Vorurteile, der Araber braucht eben die harte Hand". Deshalb habe man gerne weggeschaut, wenn autokratische Regime Unruhen niederschlugen - schließlich ging es um geopolitische Interessen, um Israels Sicherheit und sichere Ölzufuhren.

Deshalb habe man im Westen nun große Schwierigkeiten, das Geschehen im Maghreb und Nahen Osten zu begreifen und positiv einzuordnen. Daran führe aber kein Weg vorbei, meint Lüders, auch wenn Rückschläge möglich seien. Im Zeitalter von Facebook und Co. lasse sich der "Arabische Frühling" nicht mehr zurückdrehen. In welche Richtung er sich entwickelt - schon haben (gemäßigte) Islamisten die Tunesien-Wahl gewonnen - weiß auch der Autor nicht.

Michael Lüders Tage des Zorns. Die arabische Revolution verändert die Welt

C. H. Beck

207 S. 19,95 €