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Januskopf Orbán

UNGARN Brüssel wirft der konservativen Regierung Verletzungen von EU-Verträgen vor und droht mit Sanktionen. Der Ministerpräsident will sich beugen - dem…

23.01.2012
2023-08-30T12:17:23.7200Z
4 Min

Anzünden", fordert eine johlende Menge vor dem Haus der EU-Vertretung in Budapest. Csanád Szegedi, Europa-Abgeordneter der rechtsextremen Partei "Jobbik" kommt der Aufforderung der Menge nach. Mit etwas Flüssigkeit muss er nachhelfen, dann brennt die blaue Flagge mit Sternenkranz. "EU verrecke", skandieren die etwa 1.000 Rechtsextremen. Parteichef Gábor Vona hatte zuvor vom "Kriegszustand" gesprochen, in dem sich Ungarn mit der EU-Kommission befände. Und er droht Kommissionspräsident José Manuel Barroso mit der "Viehpeitsche". Unterdessen geht im südungarischen Szeged der Antisemit István Csurka mit Kommunalpolitikern der Regierungspartei "Fidesz" für den nationalkonservativen Regierungschef Viktor Orbán auf die Straße. Auch er sieht in Brüssel mächtige Gegner am Werk. "Unsere Feinde haben das Problem, dass Ungarn magyarisch und christlich sein will", behauptet er.

In schlechter Verfassung

Szenen aus Ungarn von einem Wochenende, Anfang 2012. Der Grund für den anti-europäischen Schulterschluss von ungarischen Konservativen und Rechtsextremen: Die EU-Kommission hat der Regierung Orbán die Folterinstrumente gezeigt. Sie will mehrere Verfahren nach Artikel 7 der EU-Verträge gegen Ungarn anstrengen - eine Premiere in der EU. Begründung: Die europäischen Grundwerte würden in dem EU-Mitgliedstaat verletzt. Insbesondere die Unabhängigkeit von Justiz, Notenbank, Medien und Datenschutzbeauftragtem seien nicht gewährleistet. Grundproblem ist die neue Verfassung, seit dem Jahreswechsel in Kraft. Daniel Cohn-Bendit, Fraktionschef der Grünen im Europaparlament, nannte im RBB-Inforadio ein Beispiel: "Die Regierung hat die Flat Tax in die Verfassung geschrieben." Das bedeute, dass eine Nachfolgerregierung eine Zweidrittelmehrheit braucht, um ein Steuergesetz zu ändern. "Es ist schon unglaublich, mit welcher Chuzpe Orbán hier auftritt", sagte der Grünen-Politiker.

Das Rentenalter von Richtern wird künftig von 70 auf 62 gesenkt. "So kann Orbán mehr als 270 Richter loswerden, die noch von der alten Regierung eingesetzt wurden", sagt der ungarisch-stämmige Publizist Paul Lendvai, der sich intensiv mit Orbáns "System der Nationalen Zusammenarbeit" auseinandergesetzt hat. Die Finanzaufsichtsbehörde - mit Fidesz-Leuten aufgebläht - soll künftig den letzten Widersacher Orbáns, Notenbank-Chef András Simor, an die Kandarre nehmen. Auch der Lizenzentzug für den Oppositionssender "Klubrádio" stösst auf Kritik. "Die zuvor regierenden Sozialisten haben zwar einen Sauhaufen hinterlassen", sagt Lendvai, "aber die Grundwerte haben sie nicht angetastet."

Offensichtlich ist in Brüssel die Geduld mit Viktor Orbán zu Ende. Entgegen sonst üblicher Praxis hat die Budapester Regierung nur einen Monat Zeit, zu den Vorwürfen Stellung zu nehmen. Und sowohl EU-Kommission als auch IWF drehen dem klammen Ungarn den Geldhahn zu, um ihre Forderungen nach politischen Reformen handfest zu untermauern. 15 bis 20 Milliarden Euro braucht das hochverschuldete Land (Schulden: 82 Prozent des BIP). Die Ratingagenturen stuften Staatsanleihen auf Ramschniveau ab, die Landeswährung Forint ist immer weniger wert, Kredite werden immer teurer, was auch für eine Schieflage der österreichischen Banken sorgen könnte, bei denen die Ungarn mit 41 Milliarden Euro in der Kreide stehen.

Ungarn droht im schlimmsten Fall der Entzug der Stimmrechte im EU-Rat und dass wegen des Haushaltsdefizits zur Strafe EU-Fördermittel eingefroren werden. Die "schwierige Lage", so glaubt der Publizist Lendvai, werde Orbán aber "für das Aufputschen nationalistischer Gefühle nutzen".

Und so lässt der Regierungschef dieser Tage in Ungarn verbreiten: Die Vorwürfe basierten auf "Lügen der Linken". Vor dem Europaparlament, in das er sich selbst eingeladen hat, wirft er Nebelkerzen und spricht von "Irrtümern und falschen Tatsachen". In der deutschen "Bild"-Zeitung gibt er sich kompromissbereit: "Wir sind offen und bereit, über alle Probleme zu verhandeln." Und in einer Mischung aus Trotz und öffentlicher Zerknirschung legt er nach: "Wir werden uns in diesem Fall der Macht beugen, nicht den Argumenten." Die Botschaft: Ungarn - Opfer fremder Mächte. Das ist das stets wiederholte nationale Selbstverständnis der ungarischen Rechten.

Zwei Gesichter

Orbán sei janusköpfig, meint Lendvai. "Nach außen hin wird er Moll spielen und gewisse Zugeständnisse machen. Aber innenpolitisch sind die Weichen gestellt." Überall habe die Regierungspartei Fidesz Vertrauensleute installiert. Die Opposition sei - trotz der jüngsten Demonstrationen in Ungarn - zu schwach. Und innerhalb der regierenden Fidesz-Partei gebe derzeit keine Persönlichkeit, die es wagen würde, gegen Orbán aufzustehen.

Der ungarische Piano-Virtuose András Schiff, der aus Protest nicht mehr in seinem Heimatland auftritt, regte auf einer Veranstaltung in Berlin jüngst an, Fidesz aus der Europäischen Volkspartei (EVP) hinauszuwerfen. Der feinsinnige Pianist vergleicht die EU mit einem Club, in dem es Hausregeln gebe und Orbán mit einem Rüpel. Verstöße gegen die Hausregeln würden bislang leider nicht geahndet, beklagt Schiff: "Man bleibt drin, egal, wie man sich benimmt. Das Drinbleiben muss man sich aber verdienen."

Der Autor ist Radiournalist in Berlin und berichtet als freier Korrespondent aus Ungarn.