Piwik Webtracking Image

Tief verwurzelte Vorurteile

ANTISEMITISMUS Viele seiner Erscheinungsformen sind nur ungenügend erforscht. Bundestag will Thema weiter behandeln

30.01.2012
2023-08-30T12:17:24.7200Z
5 Min

Es liegt in ihrem Kreuzberger Kiez, aber eigentlich würden die jungen Muslime dieses Gebäude niemals betreten: das Berliner Jüdische Museum. Hakan Aslan, Sozialarbeiter einer Berliner Jugendeinrichtung im Chamisso-Kiez, hatte sie trotzdem dort hingeschickt. Bei einer Stadtrallye sollten die 11- bis 13-Jährigen Jugendliche dort hineingehen, um Vorurteile abzubauen. Sie sollten genau mit den Menschen ins Gespräch kommen, über die sie sonst nur abfällig sprechen. "Du Jude" ist unter den jungen Türken, Arabern oder Pälästinensern ein gebräuchliches Schimpfwort. "Das ist eine Machtdemonstration, mit der sich die Jugendlichen selbst über andere stellen", sagt Aslan. Gemeinsam mit Susanna Harms von der Amadeu-Antonio-Stiftung hat er 2011 in seinem Jugendclub das Projekt "Amira" realisiert. Die Abkürzung steht für "Antisemitismus im Kontext von Migration und Rassismus". Ziel des Projektes war es zu fragen, wie Antisemitismus in der Jugendarbeit begegnet werden kann. Doch Aslan gibt auch zu bedenken: "Was antisemitisch wirkt, hat bei den Jüngeren noch kein politisches Fundament, aber es kann sich festsetzen." Er möchte den Begriff Antisemitismus daher genau differenziert wissen. "Es ist nicht alles ein Brei", sagt er. So seien antisemitische Äußerungen bei jungen Türken anders einzuordnen als bei jungen Palästinensern. Um antisemitischen Vorurteilen zu begegnen, sei es wichtig, Projekte dieser Art früh anzufangen und vorausschauend planen zu können. "Am besten helfen langfristige Bezugspersonen, die als Vorbild dienen, um den Vorurteilen zu begegnen", ist seine Erfahrung.

Doch auch das "Amira-Projekt" ist nach drei Jahren ausgelaufen. Fortsetzung ungewiss. "Man kann erfolgreiche Projekte nicht weiterentwickeln", bemängelt Susanna Harms. Die 41-jährige Politologin weiß, dass viele Jugendeinrichtungen Probleme mit antisemitischen Äußerungen habe, gerade unter Migranten. Ob sie wirklich mehr geworden sind, kann sie aber nicht sagen.

Unzureichende Daten

Diese Frage können auch die Fachleute des unabhängigen Expertenkreises Antisemitismus nicht beantworten. "Der Antisemitismus unter Muslimen ist mit wenig Daten unterlegt", stellte die Historikerin Juliane Wetzel bei der Vorstellung des ersten Antisemitismusberichts (17/7700) am vergangenen Montag im Bundestag fest. Darin warnen die Experten - zehn Wissenschaftler und Praktiker mit ganz unterschiedlichen Erfahrungen - davor, dass sich die öffentliche Diskussion in der jüngsten Zeit oftmals auf "Muslime mit Migrationshintergrund" fokussiere. "Hier müssen wir das Spektrum wesentlich erweitern", forderte Wetzel.

Latenter Antisemitismus

Doch schon dieser erste Antisemitismusbericht (siehe auch "Das Parlament" 50/2011) zeigt, wie vielschichtig und weit verbreitet das Phänomen in Deutschland ist. In der Gesellschaft sind antisemitische Einstellungen in "erheblichem Umfang" vorhanden, sagt der Historiker Peter Longerich. Sie basierten auf "weit verbreiteten Vorurteilen", "tief verwurzelten Klischees" und "schlichtem Unwissen", heißt es in dem Bericht. Und Longerich nennt alarmierende Zahlen: Bei 20 Prozent der Deutschen gebe es einen "latenten Antisemitismus", schätzen er und seine Kollegen. Damit bezeichnet er das, was in den Einstellungen der Menschen existiere. Diese Einstellung führt nicht zwingend zu Taten oder sogar Straftaten. 90 Prozent der antisemitischen Straftaten werden von Tätern aus dem rechten Spektrum begangen. So bleibt der Antisemitismus, sagt Longerich, "ein unverzichtbares Bindemittel im rechten Lager". Für Wolfgang Thierse (SPD) hat der Bericht daher, sagte der Bundestagsvizepräsident bei der Vorstellung des über 200 Seiten starken Papiers, eine "fatale Aktualität". Nur wenige Tage später beschloss der Bundestag die Einsetzung eines Untersuchungsausschusses zur Neonazi-Mordserie (siehe Seite 1). Erhebliche Gefahr geht nach Meinung der Experten aber auch vom Islamismus aus, der sich ebenfalls antisemitischer Einstellungen bedient. Dabei wird vor allem Israel sein Existenzrecht abgesprochen. Ob die Aktivitäten dieser Gruppen auch in Deutschland zu einem islamistisch geprägten Antisemitismus beitragen, können die Experten bislang nicht sagen.

Am Ende ihrer Analyse kommen die Experten zu einem ernüchternden Schluss: "Eine umfassende Strategie zur Bekämpfung des Antisemitismus existiert in Deutschland nicht", gibt Wetzel zu bedenken. Das Expertenteam hat daher einen Katalog mit Empfehlungen vorgelegt - gerade an die Politik.

Sie ist jetzt am Zug, wie mit dem Thema Antisemitismus künftig umgegangen werden soll. Für die CDU/CSU-Fraktion äußerte ihr innenpolitischer Sprecher Hans-Peter Uhl (CSU) bei der Vorstellung des Berichts die Hoffnung, "dass wir jede Form von Antisemitismus verurteilen, bekämpfen und ächten müssen". Der Bericht sei für den Bundestag ein Auftrag, "sich intensiv mit dem Thema zu befassen", sagte Uhl. Man müsse dabei jedoch auch differenzieren. Er hoffe aber, dass man nach einer eingehenden Diskussion zu einem parteiübergreifendem Ergebnis komme.

Nachhaltige Prävention

Als eine "erste Bestandsaufnahme", bezeichnete Gabriele Fograscher (SPD) den Bericht. Sie sieht Handlungsbedarf für eine "umfangreiche Abwehrstrategie" und einen Bedarf für "nachhaltige Präventionsmaßnahmen". Die SPD- Politikerin sprach sich daher dafür aus, dass der Expertenkreis seine Arbeit fortführen müsse. Auch Serkan Tören (FDP) sieht weiteren Handlungsbedarf in Sachen Antisemitismus: "Es gilt für uns dagegen anzukämpfen, überall wo es ihn gibt", sagte der FDP-Politiker und wies darauf hin, dass es immer weniger Zeitzeugen gebe. "Eine noch genauere Expertise" wünschte sich Bundestagsvizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt (Bündnis 90/Grüne). Sie forderte eine bessere Projektförderung. Man müsse zu einer "langfristigen Bekämpfung des Antisemitismus kommen", sagte sie, sowohl bei Vereinen, aber auch in Schulen und Gedenkstätten.

Wie die SPD konstatierte auch Bundestagsvizepräsidentin Petra Pau (Die Linke), dass es keine Strategie gegen Antisemitismus gebe. "Empörung ja, fundierte Rezepte nein", stellte sie fest. Sie sieht daher einen klaren Auftrag an den Bundestag und wünscht sich dort eine "sachliche und nachdenkliche Debatte über den Expertenbericht". Dabei muss sich Pau immer wieder den Vorwurf gefallen lassen, dass es in ihrer eigenen Fraktion Abgeordnete mit antisemitischen Einstellungen gebe. Die Experten hatten auch diesem Vorwurf nachgehen wollen, aus Zeitgründen in diesem Bericht jedoch darauf verzichtet, sagte Longerich.

Über die Parteigrenzen hinweg

Pau mahnte, "nicht gegenseitig aufeinander zu zeigen und sich gegenseitig auszugrenzen" - ein Fingerzeig darauf, dass es im November 2008 im Vorfeld der Einsetzung des Expertengremiums zu einem wochenlangen Hickhack zwischen der CDU/CSU und der Linken gekommen war. Mit dem Argument, dass es in der Linken "antisemitische Tendenzen" gebe, hatte es die CDU/CSU abgelehnt, mit der Fraktion einen gemeinsamen Antrag zu stellen. Am Ende wurden dann zwei gleichlautende Anträge ins Plenum eingebracht (16/19775, 16/10776). Die Tradition, im Deutschen Bundestag parteiübergreifend gegen Antisemitismus zu kämpfen, möchte Dietmar Nietan (SPD) anknüpfen. Vergangene Woche traf er sich daher informell mit anderen Abgeordneten aller Fraktion, um zu überlegen, "wie wir das Thema parlamentarisch begleiten und den Bericht operationalisieren können." Zunächst sind dafür Gespräche mit den zuständigen Fachpolitikern des Innenausschusses geplant. Das Expertengremium selbst schlägt vor, einmal in der Legislaturperiode einen Bericht vorzulegen. "Es gibt weiteren Forschungsbedarf", sagte Historiker Longerich. Bundestagsvizepräsident Thierse sieht in den Fraktionen Einigkeit darüber, "dass wir das für einen besonders gewichtigen Bericht halten - einen Zwischenbericht", sagte er. Jetzt müsse über viele Einzelfragen weiter diskutiert werden. Er regte an, "dass wir in jeder Legislaturperiode eine Debatte zu diesem Thema haben". Dazu solle dann jeweils auch ein Bericht der Bundesregierung vorgelegt werden.

Eines aber ist bittere Gewissheit: An Aktualität wird das Thema auch in den kommenden Jahren nicht verlieren. Denn, so Expertenmitglied Schöps: "Das Phänomen ist uralt und wir haben weiter mit ihm zu kämpfen."