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Buchstaben ohne Sinn

ALPHABETISIERUNG Lese- und Rechtschreibprobleme unterscheiden sich stark. Die Förderung soll ausgebaut werden

13.02.2012
2023-08-30T12:17:25.7200Z
6 Min

Er ist ein Problem. E und R. Er. Immer wieder schreibt Frank das falsch. Giraffe ist leicht. Sofa, Fete und Regina - auch kein Problem. Nur das Er ist verflucht. Jahrelang hat Frank dieses Er nicht gebraucht, hat sich immer und überall auf sein Gedächtnis verlassen. Wo andere einen Straßennamen gelesen haben, hat Frank sich den Micky-Maus-Aufkleber auf dem Schild gemerkt. Festgetretene Kaugummis und Zigarettenautomaten identifizierten eine Straßenecke. Um eine bestimmte Wohnung wiederzufinden, hat er sich am Schmutz im Treppenhaus und an den Schuhen vor der Tür orientiert. Zur Not half der Teppichläufer. Die Unregelmäßigkeiten, die abgenutzten Stellen, die Farbschattierungen waren Wegweiser.

In Deutschland leben 7,5 Millionen sogenannte funktionale Analphabeten zwischen 18 und 64 Jahren, hat die 2010 vom Bildungsministerium in Auftrag gegebene "leo. Level-One Studie" ergeben. Sie können einzelne Sätze lesen oder schreiben, jedoch keine Texte. Laut Studie sind 57 Prozent erwerbstätig, 42 Prozent haben nicht Deutsch als Muttersprache. Rund vier Prozent der Bevölkerung sind Analphabeten im engeren Sinne: Sie können einzelne Wörter lesen und schreiben, aber keine Sätze.

Auf der Schulbank

Frank ist Teil der Statistik. Das Lesen hat er sich irgendwann selbst beigebracht, beim Schreiben hat es alleine nicht geklappt. Für Kurse fehlte ihm lange die Motivation. Als Trockenbauer sei er ja auch ohne Schrift zurecht gekommen, sagt er. Doch dann lernte er seine Freundin kennen und wollte ihr SMS schreiben. Und so sitzt er, mittlerweile arbeitslos, täglich im Verein "Lesen und Schreiben" in Berlin-Neukölln und lernt.

Das Zimmer ist ein typischer Berliner Altbau: Holzdielen, hohe Decken, zugig. Von der Decke hängen Buchstaben, hell angemalt und aus Styropor gefertigt: A, H, C, D. Die Tische sind auf eine Tafel ausgerichtet, in der Ecke hängt ein Geodreieck. An den Wänden kleben Papierbögen mit Sätzen, zusammen gesetzt aus Zeitungswörtern: "Böser Knoblauch sucht ein Wohnzimmer" oder "Irrsinn! Abgeordneter greift die Melancholiker an". Es sind Nonsens-Sätze, die aber grammatikalisch und orthografisch korrekt sind. Frank sitzt davor, in Wollmütze und schwarzem Kapuzenpulli und überträgt Wörter in ein Schulheft. Seine Buchstaben sind geschwungen, fast ein wenig schnörkelig. Er schreibt immer in Schreibschrift. "Meine Generation kennt nur Schreibschrift", sagt er und lacht.

Frank ist 47 Jahre alt. Wenn er an seine Schulzeit denkt, dann ist er vor allem auf den Straßen Kreuzbergs im damaligen West-Berlin unterwegs. Manchmal arbeitet er auch - aber er sitzt bestimmt nicht in der Schule. Den Lehrern sei das egal gewesen, sagt er, und der Mutter auch. "Zu Hause war eh immer Stress." Die Hausaufgaben haben andere für ihn gemacht. Andere, die zwar besser in der Schule waren, aber nicht so groß und kräftig. Die Frank einschüchtern konnte. "Wenn man dieses Defizit hat, hat man sich eben anders Respekt verschafft", sagt er. Entweder man sei aggressiv geworden oder habe sich zurückgezogen - voll Scham und Selbstzweifel.

So wie Rosi, die sieben Jahre älter ist als Frank. Für ihre Schulzeit fällt ihr nur ein Wort ein - "grausam". Die Deutscharbeiten waren nach der Korrektur rot, beim Lesen kam sie ins Schlingern. Der Lehrer habe die guten Schüler nach vorne gesetzt und die schlechten nach hinten. "Der hat uns abgeschrieben, wir waren ja doof", sagt sie. Das habe ihr jedes Selbstvertrauen genommen. Schließlich kam Rosi auf die Sonderschule. Ob sie dort einen Abschluss gemacht hat, weiß sie nicht mehr. "Aber auf meinem letzten Zeugnis waren nur Sechsen."

Ein fehlender Schulabschluss gehört zu den Risikofaktoren, die zu einem späteren Analphabetismus führen können, sagt Anke Grotlüschen, Professorin für Lebenslanges Lernen an der Universität Hamburg und Leiterin der "leo"-Studie. Auch Menschen, die einen höheren Bildungsabschluss haben, können aufgrund fehlender Übung das Lesen und Schreiben wieder verlernen. Zudem ist laut Grotlüschen das Elternhaus entscheidend. Das heißt: Erwachsene ohne Schulabschluss bekommen Kinder, deren Lese- und Schreibfähigkeit etwas schlechter ausgebildet ist als die von Gleichaltrigen.

Bunte Gruppe Menschen

In Franks Lerngruppe, der Anfängergruppe des Vereins "Lesen und Schreiben", sitzen Männer und Frauen unterschiedlichen Alters und Herkunft: Mehmet, der anfangs gebracht werden musste, weil er den Weg alleine nicht finden konnte. Annemarie, die immer mal wieder für ein paar Monate kommt. Timo, der einzige Nicht-Berliner, der mit dem Bleistift so fest aufdrückt, als wolle er die Buchstaben ins Papier meißeln. Und eben Frank, der bereits lesen kann.

Heute sitzt er Roland gegenüber und diktiert ihm Wörter von Papierkärtchen. Bei dem Wort Gehege bleiben die beiden hängen. Roland schafft es nicht, die Buchstaben zu Papier zu bringen. Frank wiederholt das Wort. Einmal, zweimal. Dann wirft er einen Blick zur Lehrerin, einer weißhaarigen Frau, pensionierte Berufsschullehrerin: "Ge-he-ge", sagt sie langsam, die einzelnen Silben betonend, und hält sich die Hand vor den Mund. "Was spürst du da?" Roland hält sich ebenfalls die Hand vor den Mund, spricht das Wort nach, spürt einen Luftzug an den Fingern. "Ich spüre ein H", ruft er. Sein H klingt wie ein Stoßseufzer, er kann es so besser in den Wortkontext einordnen.

Die Probleme, die funktionale Analphabeten haben, sind unterschiedlich: Einige schreiben so, wie sie hören - also Ulaub statt Urlaub -, andere haben Probleme mit der Groß- und Kleinschreibung. Sie schreiben zum Beispiel groß, was ihnen am wichtigsten ist. Manche können die Wörter nicht mit den Buchstaben in Verbindung bringen: Warum fängt München mit einem M an, nicht aber das Wort Emmentaler?

Nach dem Unterricht am Vormittag geht es für die Lerngruppe in die angrenzende Werkstatt. Hier riecht es nach Hobelspänen und Honig. Auf einem Werktisch steht ein Modell-Lkw, grün-schwarz-rot angemalt. "Vorsicht Farbe", verkündet ein Pappschild daneben. Frank sägt ein Brett, Roland trägt neues Holz herein. Andere Schüler kochen im Vorderhaus das Mittagessen, einer ist für den Verein auf einem Botengang in Berlin unterwegs - allein.

Lernen fürs Leben

Manche der Schüler von "Lesen und Schreiben" haben ihren Kiez nie verlassen und müssen lernen, sich im Alltag allein zurechtzufinden. Sie haben keine Ahnung, was der Unterschied zwischen einer Stadt und einem Kontinent ist, für sie sind fünf Euro das gleiche wie fünfzig Euro. "Diese Menschen leben quasi nicht in dieser Welt", sagt Urda Thiessen vom Vereinsvorstand. Das sind zwar Härtefälle, dennoch geht es nicht nur darum, lesen und schreiben zu lernen, sondern auch darum, einen Platz im Leben zu finden. Und irgendwann auch einen Arbeitsplatz. Doch genau hier, beim Arbeitsplatz, gibt es ein Problem.

Die Leute, die in Berlin-Neukölln oder ähnlichen Einrichtungen lernen, sind in der Regel arbeitslos - sonst könnten sie nicht den ganzen Tag dort sein. Die Bundesagentur für Arbeit (BA) übernimmt die Kosten jedoch nur in manchen Fällen. Einer offiziellen Stellungnahme nach wird Alphabetisierung generell dem Bereich der Allgemeinbildung zugerechnet und ist damit nicht Aufgabe der Grundsicherung für Arbeitslose.

Was das im Einzelfall bedeutet, hat Rosi am eigenen Leib erfahren. Jahrelang hat sie mit der Angst gelebt, dass ihre Kindern sie auslachen oder ihr Mann wegen ihrer Probleme weglaufen könnte. Irgendwann hat sie Mut gefasst, mit ihrer Familie gesprochen - sich "geoutet", wie sie sagt - und sich mit dem Computer das Lesen beigebracht. Doch dann, an einem Freitag im Februar, in ihrem von der BA bezahlten Berufsförderungskurs war die Angst wieder da. Sie sollte ein Motivationsschreiben verfassen - umgeben von Frauen und Männern, die keine Probleme haben, ihre Vorstellungen zu Papier zu bringen. Rosi hat gezittert, geschwitzt, keine Luft mehr bekommen. "Was soll ich da?", fragt sie. "Ich bin noch nicht soweit." Was sie braucht, sei ein Schreibkurs und keine Nachhilfe darin, wie sie ihren Lebenslauf ansprechend gestaltet.

Arbeitsmarktförderung

Der Grundbildungspakt, auf den sich der Bund und die Länder Ende vergangenen Jahres geeinigt haben, sieht vor, die Alphabetisierung zum Bestandteil der Arbeitsmarktförderung zu machen. Die Unterstützung der Lese- und Schreibkompetenz soll dazu beitragen, Arbeitslose in den Arbeitsmarkt zu integrieren. Zudem sollen Alphabetisierung und Grundbildung am Arbeitsplatz ausgebaut werden und die Unternehmen für Grundbildungsdefizite sensibilisiert werden.

Für die Betroffenen ein Grund zu hoffen: Wenn sie schreiben kann, möchte Rosi arbeiten, am liebsten in der Altenpflege. Und auch für Frank ist das Schreiben lernen nur ein Schritt zur Selbstständigkeit. Er träumt von einem eigenen Fahrradladen oder einer eigenen Kneipe. Die Formulare für die Behörden wird er dann selbst ausfüllen können. Tatjana Heid z

Namen sind geändert