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Fahnder mit Tunnelblick

NSU-AUSSCHUSS Das Durchleuchten der Ermittlungen zeigt eine beschränkte Behördensicht nach rechts

16.07.2012
2023-08-30T12:17:34.7200Z
5 Min

Vielleicht wird der 5. Juli zum Markstein des Bundestags-Untersuchungsausschusses, der Fehlgriffe bei den Ermittlungen zu der dem "Nationalsozialistischen Untergrund" (NSU) angelasteten Mordserie an neun türkisch- und griechischstämmigen Kleinunternehmern sowie einer Polizistin durchleuchten soll. Nicht, weil die elf Abgeordneten mit dem Rückzug Heinz Fromms von der Spitze des Bundesamts für Verfassungsschutz (BfV), der nun vor ihnen als Zeuge sitzt, schon nach wenigen Monaten ein Spektakulum provoziert haben. Bemerkenswert ist dieser Tag auch nicht unbedingt deswegen, weil mit der Vernichtung von BfV-Akten zur "Operation Rennsteig", einem V-Leute-Einsatz beim rechtsextremistischen "Thüringer Heimatschutz" (THS), nach dem Auffliegen der NSU-Terrorzelle Ende 2011 ein "unglaublicher Skandal" (SPD-Obfrau Eva Högl) durchgeknetet wird. Für das Schreddern durch den als "Reißwolf" firmierenden Referatsleiter M. hat Fromm "keine überzeugende Erklärung", die Aktion habe vertuscht werden sollen, "ich wurde hinters Licht geführt".

Der 5. Juli dürfte dereinst im Abschlussbericht des Bundestagsgremiums vielmehr deswegen eine zentrale Rolle spielen, weil man wohl zu einem Kern des Übels vorgestoßen ist - dass mit gigantischem Aufwand nach Mordmotiven vor allem im kriminellen Milieu gefahndet wurde, sich aber einfach keine Spur zum NSU auftun wollte.

Es ist still in der Runde, als Fromm Selbstkritisches formuliert: Der Zeuge spricht von "Borniertheit" und "analytischer Engführung" bei der Aufklärung. Die Einschätzung von Gewaltgefahren habe man auf präzise Erkenntnisse zu konkreten Taten in der Vergangenheit gegründet, weswegen man eine "Braune Armee Fraktion" nicht für denkbar gehalten habe und sich das Entstehen terroristischer Zellen nicht habe vorstellen können. Handfeste Hinweise in dieser Hinsicht, sagt Fromm, hätten nicht existiert. Offenbar habe man jedoch seinerzeit die rechtsextreme Ideologie nur unzureichend begriffen und deshalb "Schlimmeres" nicht bedacht: "Verstehen wir die Bedrohung richtig?" Das bittere Fazit des obersten Geheimdienstlers: "Eine schwere Niederlage für die Sicherheitsbehörden".

Anders formuliert: Hätten Polizei und Geheimdienste auch das "Schlimmere" erwogen, hätte man etwa die erstaunlich nahe zum NSU-Trio führende "Spur 195" eines Profilers über Täter mit fremdenfeindlichem Motiv wohl gründlicher verfolgt. Und eventuell hätte man einzelne Puzzleteile wie das nach einem Nagelbombenattentat 2004 in Köln nahe dem Tatort gefundene Flugblatt mit Formulierungen Richtung Rechtsextremismus anders gewichtet. Die "fast schon professionelle Geheimhaltung" des NSU, die Jörg Ziercke, Präsident des Bundeskriminalamts (BKA), bei seinem Auftritt vor dem Ausschuss im Juni erwähnt, wäre vielleicht durchbrochen worden. Durch Fromms Nachdenklichkeit kann sich Linke-Sprecherin Petra Pau bestätigt sehen, die oft insistiert, Ermittlungspannen seien wesentlich auf die generelle Unterschätzung der vom rechtsextremistischen Spektrum ausgehenden Gefahren zurückzuführen.

"Fassungslos"

Vor diesem Hintergrund einzuordnen sind viele Mängel im Kleinen, die als jeweiliger Einzelfall den Misserfolg der Ermittlungen insgesamt nicht unbedingt zu erklären vermögen. Manche Abgeordnete zeigen sich "fassungslos". So sind die vernichteten BfV-Akten, die über eine Rekonstruktion doch inspiziert werden konnten, offenbar zwar nicht sehr wichtig, jedenfalls scheint niemand vom NSU als Spitzel angeworben worden zu sein. Doch die Parlamentarier erregen sich über das Durcheinander bei den Regeln zur Löschung von Unterlagen in Fromms Behörde: Das sei eine "Lotterie", sagt Unions-Obmann Clemens Binninger (CDU), Hartfrid Wolff (FDP) sieht das Vertrauen in das BfV "geschreddert". Inzwischen wurde bekannt, dass ein Teil der "Rennsteig"-Akten sogar erst vernichtet worden sein soll, als die Behördenleitung diese Aktion schon gestoppt habe - über diese Ungereimtheiten will der Ausschuss am Donnerstag beraten.

"Stümperhaft": So vernichtend urteilt Bernhard Falk, Ex-BKA-Vize, Mitte Juni im Ausschuss über die zwischen Bundes- und Landesebene zersplitterten Ermittlungen. Die Abgeordneten kritisieren die mangelnde Kooperation, ja das Gegeneinander der Sicherheitsbehörden. Grünen-Sprecher Wolfgang Wieland: "Polizei und Geheimdienste haben sich blockiert." Mehrfach stritten BKA und Bayern, ob man zentral oder regional ermitteln solle: Im Herbst muss Wolfgang Schäuble als Zeuge erklären, wieso er 2006 als Innenminister die Federführung nicht dem BKA übertrug. Der CDU-Politiker wird auch zu erläutern haben, warum damals beim BfV die eigenständige Abteilung Rechtsextremismus mit dem Ressort Linksextremismus vereint wurde.

Die bayerische Sonderkommission "Bosporus" ging davon aus, dass der Landes-Verfassungsschutz ihre Anfrage nach eventuell als Täter infrage kommenden Rechtsextremisten bundesweit startet, was freilich nicht geschah. Die Schlapphüte lieferten der Soko auch erst nach acht Monaten eine Liste mit Nürnberger Rechtsextremisten. Innerhalb des Geheimdienst-Verbunds herrscht ein Verwirrspiel über Spitzeleinsätze: Laut Fromm informiert das BfV wie bei der von 1996 bis 2003 laufenden "Operation Rennsteig" zwar die Kollegen der jeweiligen Landesverfassungsschutzbehörde über eigene V-Leute, umgekehrt geschehe dies jedoch nicht. Allerdings soll das BfV nach der Aussage eines Mitarbeiters des Erfurter Landesamts vor dem Thüringer U-Ausschuss sehr wohl unterrichtet gewesen sein über die Anwerbung des THS-Anführers Tino Brandt.

Hätte eine gründliche Sprengstoffanalyse nach einem Anschlag auf das Geschäft eines Iraners 2001 in Köln samt genauem Abgleich mit ähnlichen Vorfällen in entsprechenden Dateien zum NSU führen können? Der zuständige Ermittler Edgar Mittler wusste damals nicht, dass zu jener Zeit nach der untergetauchten NSU-Gruppe, bei der Rohrbomben und Sprengstoff gefunden worden waren, republikweit gefahndet wurde. Warum wurde die Tatwaffe der Mordserie nicht frühzeitig bei einem Mittelsmann in der Schweiz entdeckt, obwohl dieser im Visier der Polizei war? Für Erheiterung sorgt, dass die Polizei in Hamburg einen persischen "Metaphysiker" zwecks Befragung eines Opfers im Jenseits kontaktierte und in Nürnberg eine Dönerbude betrieb.

Mit Spannung wird der Auftritt von Hessens Ministerpräsidenten Volker Bouffier (CDU) und Ex-Verfassungsschutz-Chef Lutz Irrgang im September erwartet: Sie sollen das Rätsel klären, was es damit auf sich hat, dass bei einem Mord in Kassel 2006 ein Geheimdienstler kurz zuvor am Tatort war. Auch dieser inzwischen aus dem Dienst geschiedene Mann soll gehört werden.

Bislang noch kein Thema im Bundestagsgremium war, was im Thüringer Ausschuss schon Aufregung provoziert hat: Hätte 1998 bei einer offenbar nicht sehr professionell organisierten Suche der Polizei nach einer Bombenwerkstatt in drei Jenaer Garagen NSU-Mitglied Uwe Böhnhardt nicht ungehindert davonziehen können, wäre es vielleicht nicht zu der Mordserie gekommen - erst danach nämlich tauchte das Trio unter.

"Knallharte Konsequenzen"

Schon wird eifrig über Folgen des Versagens der Behörden diskutiert. Eine Remedur dürfte beim BfV anstehen, Innenminister Hans-Peter Friedrich (CSU) kündigt "knallharte Konsequenzen" an. Auch die Sicherheitsarchitektur insgesamt wird überprüft. Viele Ideen kursieren: Soll die Zahl der Verfassungsschutzämter reduziert werden, braucht der Generalbundesanwalt mehr Kompetenzen, muss der Einsatz von V-Leuten reformiert werden? Justizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP) hinterfragt den Sinn des Militärischen Abschirmdienstes, der auch an der anscheinend erfolglosen "Operation Rennsteig" beteiligt war.

Als wichtig gilt ein weitreichender Informationsaustausch. Diese Forderung birgt jedoch Brisanz in sich: Steht das allseits hochgehaltene Trennungsgebot zwischen Geheimdiensten und Polizei dann nur noch auf dem Papier (siehe Seite acht)? Ein bayerischer Verfassungsschützer: Wäre man dem anfänglichen Auskunftsersuchen der Soko "Bosporus" nachgekommen, hätte man alle 3.500 beim Landesamt registrierten Rechtsextremisten nennen müssen - "und dann stellt sich die Frage, wozu man noch zwei Behörden braucht".